Die räsonanz – Initiative der Ernst von Siemens Musikstiftung

Ein Vitaminstoß für die moderne Orchestermusik

Unter dem Titel räsonanz startete die Ernst von Siemens Musikstiftung 2016 eine Initiative, die der zeitgenössischen Musik in der internationalen Orchesterlandschaft neue Impulse verleihen soll. Über Hintergründe und Ziele des Unternehmens unterhielt sich Max Nyffeler mit den drei unmittelbar Beteiligten: Michael Roßnagl, (ehemaliger) Sekretär des Kuratoriums der Stiftung, Winrich Hopp, Künstlerischer Leiter der Münchner musica viva und Michael Haefliger, Intendant von Lucerne Festival.

Im Gespräch mit Michael Haefliger, Winrich Hopp und Michael Roßnagl

von Max Nyffeler

NYFFELER: Herr Roßnagl, die Konzertreihe räsonanz stellt eine neue Art der Förderung von zeitgenössischer Musik durch die Ernst von Siemens Musikstiftung dar. Welche Idee steckt dahinter?

ROßNAGL: Wir haben bisher Projekte der zeitgenössischen Musik unterstützt und jährlich unseren großen Musikpreis und die Förderpreise für junge Komponist*innen vergeben. Das läuft alles wunderbar. Mit räsonanz wollen wir nun zusätzlich auch selbst die Initiative ergreifen. Das entspricht übrigens auch dem Wunsch unseres langjährigen Kurators Pierre Boulez, der sagte: „Macht auch selber etwas!“ Unsere Initiative betrifft die zeitgenössische Orchestermusik und dazu konzentrieren wir uns zunächst einmal auf zwei Orte: München mit seiner bedeutenden Konzertreihe musica viva und Luzern mit einem Festival, das für die Einbindung der Moderne in das „normale“ Konzertleben wegweisend ist. Bei der Wahl der Orte spielte auch eine Rolle, dass die Stiftung ihre Geschäftsleitung in München und ihren Sitz in der Schweiz hat.

NYFFELER: Die Initiative zu räsonanz geht also von der Stiftung aus und nicht von den Veranstaltern?

ROßNAGL: Richtig.

NYFFELER: Wie schätzen Sie diese Initiative ein, Herr Haefliger?

HAEFLIGER: Von so etwas wagt man heute gar nicht mehr zu träumen. Für ein Festival wie das unsere, das klare Ambitionen auch im Bereich der zeitgenössischen Musik hat, ist das ein Glücksfall. Da kommt einfach ein Partner und sagt: „Was wollt ihr machen und was braucht ihr dazu? Wir helfen euch.“ Es geht nicht einfach um die Finanzierung eines Kompositionsauftrags, sondern um günstige Bedingungen für die heutige Musik ganz allgemein. Es wird ein offener Raum dafür geschaffen. Das ist großartig, gerade in einer Zeit, da im Kulturbereich vieles in Frage gestellt wird.

HOPP: Dieser Einschätzung schließe ich mich an. In der internationalen Orchesterlandschaft wird damit ein Zeichen gesetzt: Seht her, hier wird etwas für die Neue Musik getan. Konkret geht es um die Musik aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

foto: Marco Borggreve

Michael Haefliger

Manu Theobald

Winrich Hopp

NYFFELER: Wie funktioniert nun dieses Modell konkret?

ROßNAGL: Die Veranstalter*innen planen ihr Projekt und wir garantieren ihnen die Durchführung, indem wir eine Ausfallbürgschaft bis zu einer bestimmten Höhe übernehmen.

NYFFELER: Die Unterstützung von Projekten ist bei Ihnen in der Regel auf drei Jahre beschränkt. Hier scheint das nun anders zu sein.

ROßNAGL: Ja. Es ist unsere eigene Initiative und da gibt es längerfristige Perspektiven.

NYFFELER: Wie entstehen die Programme und welche Rolle spielt dabei die Stiftung?

HAEFLIGER: Es gibt eine enge Kooperation aller drei Partner.

ROßNAGL: Selbstverständlich sind auch die Kuratoriumsmitglieder in die Diskussionen einbezogen. Man spricht ja miteinander und es ist ein starkes gemeinsames Wollen aller drei Partner spürbar.

HOPP: Festzuhalten ist, dass es sich um eine Stiftungsinitiative handelt. Die Konzerte sind Stifterkonzerte und wir, die Veranstalter in Luzern und München, entwickeln das künstlerische Konzept in Zusammenarbeit mit den Kurator*innen der Stiftung.

Michael Roßnagl

NYFFELER: Wie muss man sich das im Einzelnen vorstellen? Wie werden die Programme aussehen?

HOPP: Das erste Konzert wird nun am 27. Februar – noch ohne Luzern – im Rahmen eines Konzertwochenendes der musica viva stattfinden, mit Werken von George Benjamin, Pierre Boulez, György Ligeti und Georg Friedrich Haas. Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg spielt unter der Leitung von George Benjamin. Das Programm ist durchaus paradigmatisch für die künstlerische Arbeit des Orchesters während der siebzig Jahre seines Bestehens. Ab 2017 wird dann die Zusammenarbeit mit Lucerne Festival greifen. Sie kann ganz verschiedene Formen annehmen: Wir engagieren gemeinsam ein Orchester für Konzerte in Luzern und München, entweder an aufeinanderfolgenden Tagen oder, wenn die Termine nicht passen, auch mit zeitlichem Abstand. Oder wir laden zwei Orchester mit zwei verschiedenen Programmen ein, usw. Es gibt da eine hohe Flexibilität.

NYFFELER: Werden die Konzerte in Luzern im Sommer stattfinden und sind sie dann an die Festival Academy angebunden oder ins normale Programm integriert?

HAEFLIGER: Was den Zeitpunkt angeht, sind wir sehr offen, das kann auch an Ostern sein. Und wo genau diese Konzerte im Gesamtprogramm ihren Platz haben, ergibt sich von Fall zu Fall. Es kommt auf die Konstellation an.

NYFFELER: Die musica viva-Konzertreihe ist mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks assoziiert. Verändert sich an dieser Konstellation etwas?

HOPP: Nein. Die Einladung von Gastorchestern und -ensembles gehörte schon immer zur Tradition der musica viva. Das reicht vom Ensemble Modern Orchestra über das Ensemble intercontemporain und die Orchester der ARD bis hin zum BBC Symphony Orchestra und den Berliner Philharmonikern in den 60er und 70er Jahren. Eine musica viva-Konzertsaison besteht in der Regel und im Schnitt aus zehn Veranstaltungen. Fünf davon bilden das Herzstück der Reihe: Das sind die Konzerte mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Die Stiftungsinitiative erlaubt uns, die internationalen Gastorchester zu berücksichtigen.

NYFFELER: Das heißt, ein Konzert pro Jahr wird bei der musica viva künftig durch ein Gastorchester bestritten?

HOPP: Ja, aber um es in aller Klarheit zu sagen: Das ist ein zusätzliches Konzert! Die Stiftungsinitiative ersetzt nichts, sondern ergänzt.

NYFFELER: Das öffnet natürlich den internationalen Horizont. Welche Partner sind vorgesehen?

HOPP: Wir haben erst einmal die bestehenden Kontakte aktiviert und stehen nun vor der schönen Aufgabe, einige der weltbesten Orchester mit ihren Solist*innen und Dirigent*innen für die Mitarbeit an unserem Projekt zu begeistern.

NYFFELER: Interessante Aussichten für Luzern und München!

HOPP: Wobei nicht gedacht ist, dass die Orchester mit diesen Programmen nur in Luzern und München auftreten sollen, sondern dass sie im Idealfall damit auch auf Tournee gehen. Damit stellt räsonanz auch für die Orchester eine große Chance dar. Sie werden ermuntert, sich intensiv mit der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zu befassen. Das ist eine klare Botschaft.

NYFFELER: Es wird also eine Art internationales Netzwerk geschaffen, an dem sowohl die Geldgeberin, die Veranstalter*innen und die Orchester beteiligt sind. Lässt sich hier von einem neuen Kooperationsmodell sprechen?

HAEFLIGER: In diesem Bereich absolut.

HOPP: Die einleitende Bemerkung von Herrn Roßnagl über Pierre Boulez finde ich hilfreich zum Verständnis dieser Initiative. Er drängte immer darauf, die Neue Musik in die großen Institutionen hineinzutragen, was er auch mit seiner Arbeit als Dirigent tat. Deswegen steht hinter der räsonanz-Initiative nach meinem Empfinden auch ein wenig die Person von Boulez, selbst wenn sie nicht von ihm ausgegangen ist.

ROßNAGL: Es lag ihm sehr daran, den gesellschaftlichen Rang der modernen Musik zu stärken und wenn man sich die heutige Welt so anguckt, scheint mir das auch immer wichtiger.

HAEFLIGER: Boulez war in den letzten dreizehn Jahren in Luzern und davor sicher auch anderswo eine absolut dominante Figur. Er besaß die Selbstverständlichkeit zu sagen: Das muss so sein, das macht man. Ein Willensmensch, der seine Ideen ohne große Diskussionen durchsetzen konnte, weil sie nötig waren und einleuchteten. Das ist etwas, was es heute in dieser Form nicht mehr gibt. Eine Initiative wie räsonanz könnte dieses Vakuum vielleicht etwas füllen. Auch hier geht es ja nicht um ein Regelwerk, das einengt, sondern um das großzügige Schaffen von Freiräumen und Möglichkeiten.

NYFFELER: Eine mäzenatische Haltung…

ROßNAGL: …die auf einer Stiftungssatzung beruht, deren Offenheit ursprünglich keine inhaltliche Ausrichtung vorgab, die aber von den Kuratoren nach und nach im Sinne der zeitgenössischen Musik ausgelegt wurde.

HOPP: Wir bilden hier am Tisch eine ganz interessante Konstellation. Drei ganz unterschiedliche Institutionen kommen zusammen: Einmal die Stiftung als Geldgeberin und Initiatorin, dann Lucerne Festival als Traditionsfestival mit einem starken Engagement für die Moderne und als Drittes die musica viva, eine eigens für die Moderne und Avantgarde gegründete Konzertreihe. Gemeinsam haben wir das Interesse für das große Orchester als repräsentative Formation. Und weil die musica viva den unschätzbaren Vorteil hat, dass ein weltbekanntes Orchester mit der besten Reputation ihr künstlerisches Rückgrat bildet, passt unsere Konzertreihe sehr gut in diese Konstellation.

NYFFELER: Man spricht heute viel von drohenden Einschnitten in den Kulturbereich, gerade bei der Neuen Musik, die über keine starke Lobby verfügt. Könnte räsonanz in der Öffentlichkeit als Signal gegen solche Kürzungsversuche wahrgenommen werden?

ROßNAGL: Das ist schwer zu sagen. Musik wird immer komponiert, aber letztlich hängt es vom Willen einer Gesellschaft ab, ob sie auch aufgeführt und damit gehört wird. Es geht heute darum, dass das, was in unserer komplexen Gesellschaft musikalisch errungen worden ist, nicht plötzlich verschwinden kann. Man muss daran arbeiten, dass diese Komplexität weitergetragen wird und dass es nicht zu einer Verflachung kommt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in einer kulturpolitisch einfach strukturierten Welt eine Lösung der komplexen gesellschaftlichen Probleme zustandekommen könnte. Was bedeutet diese Musik? Was gibt sie uns? Das sind entscheidende Fragen und um Antworten zu finden, muss die Anbindung der Musik an die Gesellschaft sichergestellt werden. Das ist die Aufgabe der Vermittlungsinstanzen, der Veranstalter*innen und der Pädagog*innen. Wir müssen es möglich machen, dass die Gedanken, die die kreativen Geister entwickeln, in der Realität auch wahrgenommen und gelebt werden können.

NYFFELER: Dieses Bestreben zeigt sich auch beim Lucerne Festival. Hier werden auch breitere Publikumsschichten an die zeitgenössische Musik herangeführt.

HAEFLIGER: Das versuchen wir sehr stark. Aber ganz allgemein muss ich heute leider einen Hang zu Rückzugsgefechten feststellen. Das beginnt schon bei den Veranstalter*innen, die ihre Ausrichtung ändern. Wir diskutieren bei uns sehr viel im Team und wenn ich dann sage: „An den Weg muss man glauben und weitergehen“, fühle ich mich manchmal schon fast wie ein Veteran der Neuen Musik. Es braucht immer wieder neue Kraft und neuen Glauben. Wenn man der Pflanze kein Wasser gibt, geht sie ein und wenn man als Veranstalter*in etwas nicht mehr tut, dann wird es dafür auch kein Publikum mehr geben. So einfach ist das. Die Aufgabe, klassische Musik zu vermitteln, ist eine große Herausforderung, vor allem in der Kommunikation und wenn sich das Klima verändert, muss man darauf eingehen.

NYFFELER: Wie soll das geschehen?

HAEFLIGER: Die Inhalte, an die ich glaube, muss ich auf andere Weise kommunizieren, damit sie von einem heutigen Publikum wahrgenommen werden. Ich muss über die sozialen Medien gehen, muss mir überlegen: Wie verwerte ich das im Radio, im Stream, wie kann ich das im Voraus kommunizieren. Kurz: Wie kann ich ein positives Ergebnis kreieren? Wer das nicht kann, scheitert über kurz oder lang, gerade in der zeitgenössischen Musik, die immer schon eine Herausforderung war. Man kann hier schnell aus dem Rhythmus geraten.

NYFFELER: Erklären Sie uns noch etwas genauer das Stichwort „Rückzugsgefecht“.

HAEFLIGER: Der Extremfall wäre, dass man keine moderne Musik mehr macht. Zunächst spielt man vielleicht noch Schönberg oder Strawinsky, dann definiert man sich zurück zu Debussy und Ravel und am Schluss streitet man sich, ob man Beethoven oder Brahms machen soll. Aber dann bricht das Haus zusammen.

ROßNAGL: Eine Äußerung, die ich beim Besuch des Lucerne Festivals gehört habe: „Ich kann nicht immer nur Brahms hören, ich bin froh, dass es hier auch zeitgenössische Musik gibt.“ Das stimmt positiv. Wir müssen alles tun, im Schöpferischen und auch im Finanziellen, um die Komplexität, von der ich gesprochen habe, aufrechtzuerhalten.  Nur so können wir die Herausforderungen der Wirklichkeit bewältigen.

HOPP: Auch was die Orchestermusiker*innen betrifft, kommt die räsonanz-Initiative zum richtigen Zeitpunkt. Wir haben hier einen Generationswechsel und die Jungen, die in den letzten Jahren nachgerückt sind, haben keinen Messiaen und keinen Xenakis mehr erlebt. Für sie ist die Nachkriegsmoderne nicht mehr über die Personen der Komponist*innen und die damaligen ästhetischen Debatten vermittelt; sie sind von diesen Kontroversen unbelastet und offen für alle Strömungen der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart. Die Neue Musik wird schrittweise repertoirefähig, sowohl im Inneren der Orchester als auch in der Öffentlichkeit. Wir bei musica viva stehen da an vorderster Front und das allgemeine Konzertleben wird auf Dauer zweifellos auch nachziehen. räsonanz ist genau das richtige Instrument, um diese Repertoirebildung voranzutreiben.

© musica viva des Bayerischen Rundfunks. Nachdruck nur mit Genehmigung