Ernst von Siemens Musikpreis 2016

Per Nørgård

Biografie

Per Nørgård (geb. 1932) als den herausragendsten dänischen Komponisten nach Carl Nielsen zu betrachten, ist keineswegs übertrieben. Dafür spricht vor allem sein beeindruckendes musikalisches Werk, das in seiner Originalität und gedanklichen Tiefe beispiellos ist in Skandinaviens Neuer Musik. Nørgårds Kompositionen verteilen sich gleichmäßig über unterschiedlichste musikalische Genres, angefangen bei Sinfonik, Oper und Kammermusik bis hin zu Film- und Theatermusik; sie sind ein zutiefst persönliches Reisetagebuch, das seine endlos mäandernden Streifzüge durch die Klanglabyrinthe der Welt nachzeichnet. Diese Welt ist für Nørgård mehr als ein verwirrendes Konglomerat aus Ereignissen, Chaos und unabänderlichem Leiden, sie ist auch ein verzauberter Ort voller Geheimnisse, die nur darauf warten, mit allen Sinnen entdeckt zu werden: die unermessliche Vielfalt der Natur, die zahllosen Verbindungen zwischen den Dingen und nicht zuletzt das unendlich komplexe Universum, das in jedem beliebigen Klang verborgen ist, sei er auch noch so gewöhnlich.

Es ist eine glückliche Fügung, als der damals 17-jährige Nørgård ein Schüler des berühmten und unkonventionellen dänischen Komponisten Vagn Holmboe wird. Denn Holmboes „Metamorphose“-Konzept – seine Idee eines musikalischen Embryos in fortlaufender organischer Transformation – passt ideal zu Nørgårds Naturell. Auf ein Studium an der Königlich Dänischen Musikakademie (1952–1955) folgen von 1956–1957 Studien bei Nadia Boulanger in Paris.

Die musikalischen Ideen, um die Nørgårds Schaffen in der Folgezeit kreisen, deuten sich in seinem wegweisenden Werk Constellations für zwölf Solostreicher (1958) bereits an, entfalten jedoch erst zehn Jahre später ihre volle Kraft in seiner so genannten infinity series mit Voyage Into The Golden Screen (1968) für Kammerorchester. Kompositionstechnisch basiert dieses Werk auf dem Prinzip eines Wachstums, das unendlich viele neue Intervalle hervorbringt. Wie in der Natur sind die Resultate trotz des unendlich einfachen Prinzips unendlich komplex.

Die Auseinandersetzung mit den vielen Aspekten dieses grenzenlosen Universums beschäftigt Nørgård jahrelang und gipfelt in der gewaltigen dritten Sinfonie (1974). In der Folge entdeckt er das Werk des schizophrenen Schweizer Künstlers Adolf Wölfli, das in Nørgårds Musik das Irrationale, den Konflikt und die Instabilität wiederaufleben lässt – nicht in Form einer Fragmentierung oder Ambiguität, die viele seiner Kompositionen aus den zehn Jahren zuvor prägt, sondern als zwangsläufiger Gegenpart einer universellen Ordnung. Dies zeigt sich schon am Titel der vierten Sinfonie (1981), Indischer Roosengaarten und Chineesischer Hexensee, und durchdringt auch die Oper Der göttliche Tivoli (1982), in der die Kunst als Seifenblase dargestellt wird, die zwischen Wahrheit und Täuschung zerplatzt.

Während sich frühere Verkörperungen von Harmonie, Wachstum und Reifung allmählich verlieren, gewinnen immer neue Darstellungsweisen an Bedeutung, sodass seine jüngeren Werke intimer, offener und verletzlicher wirken. In seinen Streichkonzerten aus den 1980er Jahren setzt sich Nørgård intensiv mit jenem Fundament der Musik auseinander, das am schwierigsten sinnlich zu erfahren ist – der Zeit. Im Bratschenkonzert Remembering Child (1986) und im Violinkonzert Helle Nacht (1988) führt er seine Erkundung der Stratifikation von Zeit in einer Art von Tempo-Abtastung der Melodien fort, bei der Akzentuierung, Metrum und Beat laufend neue Melodien in der Melodie freilegen.

Stürmische Zeit-Winde und federleichte „Zeit-Brisen“ durchwehen Nørgårds spätere Werke, erheben sich, jagen vorbei, legen sich und verschwinden so plötzlich, wie sie gekommen sind. Diese Reisen in die Zeit und aus ihr heraus führen Nørgård zu einer expressiven, ans Surrealistische grenzenden Stimmung, wie etwa im Klavierkonzert In Due Tempi (1995), das sich seinen Weg in ein unbekanntes, dunkles und faszinierendes Schattenland zu bahnen scheint.

Genau wie Sibelius, den er in seiner Jugend so sehr verehrte, betrachtet offenbar auch Nørgård seine Symphonien als Prüf- und als Meilensteine, als Resümee und als Synthese zugleich. Monolithisch überragen seine späteren Sinfonien die dänische Musiklandschaft: Die Fünfte (1990) ähnelt in ihrer Dramatik – Konflikt und Erlösung in enger Umarmung – keiner ihrer Vorgängerinnen und lässt sich nicht in gängigen Dichotomien beschreiben; ihr folgt die Sechste (1999) als die womöglich reichste, durchgängig überraschendste und vitalste aller Nørgårdschen Sinfonien; die Siebte (2006) ist ein verführerisches Trugbild, das sich, kurz bevor es solide Gestalt anzunehmen scheint, wieder in auralen Dunst verflüchtigt, und als aktuellstes sinfonisches Werk folgt schließlich die Achte (2012).

Per Nørgård ist in mehr als einer Hinsicht der Wanderer der dänischen Musik, dessen Reisen in weite Fernen führen – so weit, dass es manchmal scheint, er wäre einfach nur dem Zufall gefolgt. Heute reist er mit einer ausgewählten Schar musikalischer Wegbegleiter, die ihn wie Musen dazu inspirieren, in atemberaubendem Tempo ganze Kataloge von Kompositionen für Harfe, Percussion, Violine, Cello und Klavier zu schaffen – insgesamt bereits über 300 Werke. Einen roten Faden in Nørgårds Oeuvre auszumachen ist nicht leicht; findet man allerdings den passenden Blickwinkel, wird deutlich, dass es durchgängig von denselben Anliegen durchdrungen ist: All seine Reisen sind letztendlich ein und derselbe Weg.

Per Nørgård wurde unter anderem mit dem Nordic Council Musikpreis (1974) für seine Oper Gilgamesh, mit dem Léonie Sonning Musikpreis (1996; Denmark) und dem Marie-Josée Kravis Preis für Neue Musik (2014) ausgezeichnet.