Daniele Ghisi , Bergamo, Italien

Composer Prize 2024

Daniele Ghisi

Essay

Poetische Räume

von Michael Rebhahn

Eins, eins, zwei, drei, fünf, acht, dreizehn. Nicht erst seit die Fibonacci-Reihe im 20. Jahrhundert zum beliebten Topos zeitgenössischer Kompositionspraxis wurde, liegt die enge Verflechtung von Musik und Mathematik auf der Hand. Mehr noch: Das Phänomen, das wir heute Musik nennen, hat einen seiner Ursprünge in der pythagoräischen Zahlenlehre. Aristoteles nannte die Musik die »Wissenschaft des Hörbaren« und spätestens seit Boethius zählte sie — neben Arithmetik, Geometrie und Astronomie — zu dem am numerischen Denken orientierten Quadrivium der sieben freien Künste.

Dass also Komponistinnen und Komponisten eine Affinität zur Mathematik haben mögen, ist nichts Außergewöhnliches; dass sie hingegen Mathematiker sind, schon eher. Daniele Ghisi, 1984 bei Bergamo geboren, ist ein solcher. Parallel zu seiner Kompositionsausbildung absolvierte er an der Mailänder Universität ein Masterstudium der Mathematik. In seinen Abschlussarbeiten beschäftigte er sich mit sogenannten »Shearlets«, Darstellungssystemen zur Signal- und Bildverarbeitung und erarbeitete eine Studie über Eigenschaften von Intervallvektoren in der Musical Set Theory – einer Art musikalischer Mengenlehre.

»Die Mathematik«, sagt Daniele Ghisi, »hilft mir beim Komponieren nicht in einer konkret anwendungsbezogenen Form, sondern als eine Art des Denkens.« Dementsprechend bedeutet Komponieren für ihn immer eine Erforschung von Musik, Klang und Technologie. Dass er von 2008 bis 2011 seine Studien am IRCAM – dem Pariser Institut für Klangrecherche – fortsetzte, ist dabei nur folgerichtig. »Die Verbindung von musikalischer Produktion und Forschung«, so Ghisi, »hat mich sehr interessiert: Forschung über Technologie, immer verbunden mit Forschung über musikalisches Denken. Am IRCAM begann für mich ein Weg, der dazu führte, viel mehr mit Elektronik zu arbeiten und eine Musik zu entwerfen, in der Instrumente und Elektronik zusammenspielen«.

Fast alle seiner jüngeren Kompositionen hat Ghisi für akustische Klanggeber plus Elektronik entworfen. Nicht selten findet dabei die explizite Hör- und Sichtbarmachung des technischen Settings der Komposition statt. Ghisi betont die Potenziale gegenwärtiger Technologien, verwendet sie als integralen Bestandteil aktueller ästhetischer Praxis und befreit sie damit vom Image der »Beigabe«. »Elektronische Musik«, sagt Ghisi, »hat immer auch mit Präsenz und Performance zu tun«.

Ein weiteres methodisches Moment, das Daniele Ghisis Arbeit grundiert, ist das der Analyse musikalischer Materialien, nicht zuletzt mit Blick auf deren »Tauglichkeit« in möglichen Rekontextualisierungen. Statt sich der Illusion zu verschreiben, eine neuartige Musik ex nihilo zu schaffen, erforscht er das bereits Vorhandene, spielt mit traditionellen Bedeutungen in neuen Umgebungen, vermischt im besten Sinne respektlos Klänge und Formen, dekonstruiert ihre ursprünglichen Botschaften und setzt sie neu zusammen. Dementsprechend tauchen in seinen Kompositionen immer wieder Allusionen und Zitate aus der Musikgeschichte auf: von Guillaume de Machaut und Johannes Ockeghem über Bach, Chopin und Wagner bis hin zu Gérard Grisey oder Tom Johnson. Insbesondere die Musik von Johann Sebastian Bach hat es Ghisi angetan, wobei sie bei ihm keineswegs als Objekt der ergebenen Hommage erscheint. Im Gegenteil: Ghisi denkt Bach weiter, ergänzt dessen Ideen aus der Warte des technologisch versierten »Millennials«.

Neben den Anleihen aus der musikalischen Historie spielen auch Rekurse auf die Literatur in der Arbeit von Daniele Ghisi eine Rolle. Nicht wenige seiner Stücke sind textbasiert oder nehmen zumindest ein literarisches »Objekt« zum Ausgangspunkt. Auch hier spannt die Wahl der Texte einen weiten Bogen, der von Gustavo Adolfo Bécquer oder Fernando Pessoa bis zu zeitgenössischen Autor:innen wie Bernard-Marie Koltès und Maylis de Kerangal reicht. Ähnlich, wie die elektronischen Klänge und Effekte in Ghisis Musik integral sind, ist auch der Text — oder konkreter: die Sprache — nicht von der musikalischen Gestalt zu trennen. Mit der sprachlichen Sinnstiftung wird ein Narrativ hergestellt, dem die Musik ebenso folgt wie sie es kommentiert. In diesem Sinn »vertont« Ghisi nicht, sondern erzeugt eine »immersive« Umgebung, in der sich die semantischen Ebenen überlagern und ineins gesetzt werden: »Sobald Klänge zu Sprache werden, verlieren die Wörter ihren Sinn und werden zu Meta-Wörtern, die wie ein schwacher Schatten eine Spur ihrer früheren Bedeutung tragen« (Ghisi).

Die Kompositionen von Daniele Ghisi interdisziplinär oder intermedial zu nennen, beschreibt nur eine Äußerlichkeit; letztlich geht es ihm aber um deutlich mehr als die schiere Kombination. Ghisi prüft mit jedem Stück von neuem die Wechselbeziehung von Form und Wahrnehmung und entwirft poetische Räume, in denen die Vorstellung, dass jede Kunstform ihrer definierten Kategorie bedarf, zu überwinden versucht wird.