Miriam Akkermann im Interview
Miriam Akkermann hat zum Sommersemester 2024 die Ernst von Siemens Musikstiftungsprofessur an der FU Berlin übernommen. Aus diesem Anlass sprach Björn Gottstein mit ihr über ihre Pläne für das Semester, über Schnittstellen von Praxis und Theorie sowie über die schwierige Rolle der Musikwissenschaft als dokumentierende und zugleich impulsgebende Instanz auf die ausübende zeitgenössische Musikszene.
Björn Gottstein: Frau Akkermann, Sie haben zunächst Flöte und dann Musikwissenschaft studiert. Das heißt Sie sind der Musik von beiden Seiten begegnet, und bekleiden jetzt eine musikwissenschaftliche Professur, die die Praxis in die Theorie einbinden soll. Wie gehen Sie da vor?
Miriam Akkermann: Die große Herausforderung ist, dass beide Seiten ihre Interessen ausleben können und man die Schnittstellen findet, die beide Seiten interessieren: Die Frage der Dokumentation von zeitgenössischen Aufführungen zum Beispiel. Hier sehen wir sehr gut, dass die Hoffnung aus der Künstler*innenperspektive oft ist, dass die Musikwissenschaft die perfekte Formel hat wie sie dokumentieren kann. Die Musikwissenschaft auf der anderen Seite hofft, dass die Künstler*innen genau wissen, wie man ihre Arbeiten für die Ewigkeit erhalten kann. Dies führt natürlich zu einer gewissen Spannung. Ich glaube, dass die Musikwissenschaft Beschreibungsformate entwickeln, Systematiken anbieten kann. Wenn die Künstler*innen offen sind, die künstlerischen Prozesse und Werke zu erläutern, ist dies für die Musikwissenschaft ein wahnsinnig reicher Quellenschatz. Beide Seiten sollten auf Augenhöhe zusammenarbeiten und aus dem gesamten Wissensfundus schöpfen. Sie brauchen sich in ihrer Diversität. Und ich glaube, sobald das klar ist, können eigentlich alle nur gewinnen.
Sie haben in Ihrer Dresdener Zeit auch Komponisten in die Seminare eingeladen hatten – z.B. Stefan Prins und Rama Gottfried. Planen Sie das an Ihrer neuen Wirkungsstätte auch?
Ich komme gerade aus einer Probenphase mit Natasha Barrett. Sie ist im Juli als Composer-in-Residence an der Summer School in Barcelona für ein Forschungsprojekt dabei. Außerdem werden wir bei uns am Institut im Juli einen Südamerika-Schwerpunkt haben und uns u.a. mit Werken von Paulo Chagas und Cassia Carrascoza Bomfim beschäftigen. Hier wird vor allem die Frage thematisiert, was es bedeutet Stücke aufzuführen und zu erleben, die nicht mehr nur einzelne mediale Präsenzen haben, in denen es also die Präsenz von real, hybrid bis zu komplett digital gibt. Das langfristige Ziel ist, Studierende unterschiedlichster Fächer zusammenzubringen, wie etwa der Musik-, Theater-, Tanz und Medienwissenschaft, Komposition, Klangkunst, Digitale Kunst. Es ist mir sehr wichtig, verschiedenste Künstler*innen und Komponist*innen einzuladen, um ihnen die Gelegenheit zu geben, ihre eigenen Arbeiten vorzustellen. Das benötigt im akademischen Bereich aber immer etwas zeitlichen Vorlauf.
Natasha Barrett, Paulo Chagas — das ist die Gegenwart, Künstler*innen mit einem eigenen Ansatz, die an originellen Fragestellungen arbeiten. Wie verhält sich das Ihres Erachtens zu dem, was man in der Musikwissenschaft als Grundlage, früher hätte man Kanon dazu gesagt, vermitteln muss?
Man braucht das Wissen über die Musik und die Entwicklungen im 20. Jahrhundert, damit man das Rüstzeug hat, um die aktuellen Werke diskutieren und Zusammenhänge hinterfragen zu können. Viele Fragen, die wir heute an den aktuellsten Werken diskutieren, wurden schon in den letzten Jahrzehnten diskutiert. Dies gilt gerade, wenn wir uns die Aufführungspraxis anschauen. Welche Themen wurden besprochen? Was wurde vielleicht bis zu einem Ausmaß diskutiert, dass wir die Ergebnisse nehmen können, um damit weiter zu diskutieren? Und manchmal sind es sicher auch Fragestellungen, die immer noch offen bleiben.
Die Musikwissenschaft ist an der FU ein kleines Seminar als Teil eines Instituts, zu dem auch Tanz-, Theater- und Filmwissenschaft sowie Kultur- und Medienmanagement gehören. Wie empfinden Sie dieses Umfeld?
Für mich ist es großartig mit Camilla Bork eine Kollegin zu haben, mit der ich in der Forschung unglaublich viele Schnittpunkte habe. Das ist unabhängig von der Größe des Instituts. Dadurch, dass im ganzen Institut sehr viel zeitgenössische Kunst und performative Kunst erforscht wird, ist ein supertolles Umfeld vorhanden, in dem die anderen Disziplinen sehr nah sind und man so recht einfach anknüpfen kann. Ich erhoffe mir für die fünf Jahre der Stiftungsprofessur, dass wir es schaffen, diese Schnittstellen weiter auszubauen und entsprechend gemeinsame Projekte aufzusetzen.
Wie gehen Sie als Wissenschaftlerin mit neuen Entwicklungen um, Techniken wie der Künstlichen Intelligenz zum Beispiel? Sehen Sie sich aufgefordert, die Gegenwart und vielleicht sogar die Zukunft mitzugestalten?
Die Musikwissenschaft hat mit ihren Methoden eine Grenze im „Jetzt“. Wir können nur über Dinge arbeiten, die die Menschen bisher gemacht haben oder gerade dabei sind zu tun. In der reinen analytischen oder beschreibenden Arbeit kommen wir nicht in die Zukunft. Aber gerade, wenn wir uns mit Werken des 21. Jahrhunderts beschäftigen, stellen wir fest, dass es kaum noch Stücke gibt, deren Dokumentation keine Aufnahme, keine Filme, Videos umfassen. Die Art, wie und mit welchen Mitteln wir dokumentieren und wie die nun oft digitalen Materialien zu erhalten sind, ist fundamental. Wir als Musikwissenschaftler*innen werden in diesem Bereich automatisch implizite Mitgestalter*innen von dem, was in Zukunft sein wird. Und ich glaube, dass das ein wirklich großer Schritt und eine große Änderung der Position der Musikwissenschaft ist. Es geht um eine Zeitspanne von – ich sage mal – zehn Jahren. Wenn das künstlerische Tun nicht ordentlich dokumentiert ist, wenn es nicht nochmal aufbereitet, oder anders kontextualisiert wird, – und das wird insbesondere für musikalische Produktionen mit der Einbindung von Techniken Künstlicher Intelligenz spannend – dann ist die Information einfach weg und das, obwohl die Menschen noch existieren. Das ist die neue Herausforderung für die Musikwissenschaft.
Ich möchte zum Schluss noch fragen, wie Sie die Situation der Neuen Musik ganz allgemein einschätzen. Es gibt da einerseits Pessimisten, die angesichts fiskalischer Sparzwänge und kultureller Verrohung keine Zukunft sehen. Und dann gibt es die Optimisten, die hervorhebt, dass zeitgenössische Musik heute eine allgemeine Akzeptanz genießt und dass eine große Vielfalt an Klangsprachen existiert. Wie sehen Sie das?
Wir sehen, dass wir heute ein Publikum haben, dass mit dieser Nachkriegs-Avantgarde großgeworden ist. Viele dieser Stücke waren mit Sicherheit eklatante Vorreiter ihrer Klangästhetik. Aber in Teilen sind sie inzwischen etabliert und werden daher vom heutigen Publikum gar nicht mehr als extrem radikal wahrgenommen werden. Xenakis ist hierfür ein sehr gutes Beispiel. Diese vormals ungewohnten Klangcluster findet man heute in so vielen andern Bereichen, dass sie nicht mehr schocken. Auch das Publikum wächst mit den Herausforderungen. Man sieht tatsächlich, dass in den traditionellen Konzertprogrammen der Mut da ist, ein zeitgenössisches Stück zu setzen. Die Akzeptanz für solche Experimente ist viel größer, auch für nicht gewohnte Hörer*innen. Von daher würde ich sagen, dass viele Aspekte der pessimistischen Perspektive besonders die Finanzierung und die Institutionalisierung betreffen und gar nicht so sehr die kreative Seite. Die Künstler*innen lassen sich kreativ nicht unterkriegen. Ich bin sehr positiv im Sinne der Komponist*innen. Sie werden tolle Wege finden, um uns als Publikum zu überraschen.
Vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche Ihnen alles Gute für die neue Aufgabe!