Förderpreis Komposition 2025

Ashkan Behzadi

Essay

Poetische Perspektiven und die Spur dahinter

von Marina Kifferstein

„Jedes schöne Gedicht ist ein Akt des Widerstands.“ – Mahmoud Darwish

Als ich mich kürzlich mit Ashkan über das Leben, die Kunst, Identität und Politik unterhielt – ein typischer Gesprächsverlauf mit meinem tiefsinnigen Freund und Kollegen, mit dem ich seit über einem Jahrzehnt zusammenarbeite –, sagte er mir etwas, was mir zu der Zeit merkwürdig vorkam: Er sieht sich selbst als Schnecke. Das Analogon erschien ihm offenkundig, aber aus dem Blick, den ich ihm zuwarf, schloss er, dass ich keine Ahnung hatte, was er meinte. Also erklärte er es mir: Er bewegt sich langsam und mit Bedacht durch die Welt und trägt dabei das Gewicht seiner gelebten Erfahrung wie ein Schneckenhaus auf dem Rücken. Und so wie eine Schnecke Schleim hinter sich herzieht, hinterlässt er auf seinem Weg eine Spur seiner Erfahrung, die eine Zeitlang fortdauern wird und schließlich verschwindet. Diese Spur ist natürlich seine Kunst.

Ich hielt lächelnd inne, um das Bild auf mich wirken zu lassen.

Nachdem ich Ashkan schon seit so vielen Jahren kenne, hätten mich die Tiefe und Vorstellungskraft dieser Metapher nicht überraschen sollen. Denn so spricht er über alles, von der Musik bis zur Natur, von der Politik bis zu selbst eingelegtem Knoblauch – und reflektiert dabei, wie sein Geist die Welt um ihn herum in Nuancen poetischer Bedeutung zu betrachten pflegt. Wie er das Profane mit einem Zauber umgibt und das Komplexe mit einer Aura der Organizität, begeistert mich immer wieder von neuem. Er ist ein Liebhaber des Poetischen, fast seine gesamte Musik ist der Poesie verpflichtet, sei es explizit im Vertonen von Texten, sei es implizit als Ausgangspunkt oder Leitstern.

Die Metapher des Künstlers als Schnecke ist einfach und tief, offensichtlich und exzentrisch zugleich. Kunst als eine Art Exkrement oder Nebenprodukt gelebter Erfahrung zu begreifen, hat etwas Demütiges und sogar Verächtliches an sich. Und doch würdigt dieses Bild etwas, was für das Menschsein irgendwie wesentlich ist und was auch im Zentrum von Ashkans Werk steht: Die Schnecke ist klein. Sie ist elegant und unprätentiös. Sie bewegt sich langsam in der Welt und beobachtet die vergleichsweise schnelllebige Bewegung ihrer Umgebung wie im Zeitraffer. Die glänzende Spur, die sie hinterlässt, ist leuchtkräftig, aber auch kurzlebig, ein verdautes Nebenprodukt der Gegebenheiten, die sie hervorbrachten.

Ashkans Musik setzt diese Sichtweise fort und bringt eine Konstellation dialektischer Zusammenhänge aus der Perspektive eines Menschen zum Ausdruck, der sowohl globale als auch lokale Ereignisse in einem groß angelegten Zeitrahmen beobachtet. Seine Musik stellt Stillstand als Voraussetzung für Veränderung dar, Hoffnung als Funktion von Verzweiflung (und umgekehrt), Einsamkeit und Isolation als eins mit der Universalität menschlicher Erfahrung, und durchläuft somit die gesamte Skala von filigran und karg bis hin zu vielschichtig und dicht. Doch selbst seine spärlichsten Texturen sind lyrisch, durchdrungen von der unaufhaltsamen Entfaltung ihrer auf einzigartig poetische Weise inneren Logik. Aus meiner Sicht ist dies der rote Faden, der sich durch seinen vielfältigen Werkkatalog zieht, und in vielerlei Hinsicht auch das beständigste Merkmal seiner kompositorischen Meisterschaft.

Ashkan gehört einer Generation von iranischen Komponisten an, die im Ausland leben und sich in ihrer Musik auf unterschiedliche Art und Weise mit der gelebten Erfahrung und dem Trauma des Aufwachsens im angespannten soziopolitischen Klima des Irans in den Jahren unmittelbar nach der iranischen Revolution von 1979 auseinandersetzen, sowie mit den Herausforderungen, die das Verlassen der Heimat und der Aufbau eines Lebens im Ausland mit sich bringt. Er wuchs in Kerman auf, einer mittelgroßen Wüstenstadt im Südosten des Irans, und studierte zunächst in Teheran Architektur sowie Klavier und Komposition. Wie viele Künstler seiner Generation verließ er den Iran, um sein Studium fortzusetzen, zunächst in Montreal und dann in New York City, wo er auch heute noch lebt und an der Manhattan School of Music sowie an seiner Alma Mater, der Columbia University, als Dozent für Komposition tätig ist. Die mehrmalige Erfahrung von Immigration und Entwurzelung spiegelt sich in einem echten Gefühl der Transformation in weiten Teilen seiner Kunst wider, dem Gefühl, sich, den Widrigkeiten zum Trotz, durchzukämpfen.

Unsere Zusammenarbeit begann 2013 für das Debütkonzert meines Ensembles TAK. Ashkan war gerade nach New York umgezogen, um sein Promotionsstudium an der Columbia University zu beginnen, und TAK war ein neu gegründetes Quintett im Contemporary Performance Program am Graduiertenkolleg der Manhattan School of Music. Sein Trio Romance de la luna, luna, für Geige, Gesang und Schlagzeug, ist geprägt von flimmerndem Glockenspiel, gespenstisch hohen Geigenharmonien und ausdrucksvollen Gesangslinien. Die sich darin verflüchtigenden Fäden von Geflüster und Resonanz werden am Ende zu einem frenetischen Tanz hochgepeitscht, einer Art imaginärer Folkloremusik, die in einem Gefühl der Befreiung erlebt wird. Das Trio wurde schließlich die Grundlage für seinen Liederzyklus Love, Crystal, and Stone (2017), der für das ganze Ensemble geschrieben wurde.

Kurz nach diesem Gemeinschaftsprojekt begannen die TAK-Sängerin Charlotte Mundy und ich mit der Aufführung von Ashkans Duo Az hoosh mi… (2013, ursprünglich für Rachel Koblyakov und Colin Infante in Fontainebleau geschrieben). Wir spielten dieses Stück im Lauf der Jahre viele Male und haben es auch auf unserem Album Oor (TAK Editions, 2019) veröffentlicht. Die Vertonung des Gedichts Az hoosh mi… des zeitgenössischen iranischen Dichters Reza Baraheni lotet intensive romantische und erotische Spannungen aus und gibt einem Liebhaber eine Stimme, der von seinen Gefühlen dermaßen überwältigt ist, dass er keinen Satz zu Ende bringen kann, ohne in Ohnmacht zu fallen. Spannungsgeladene Gesangslinien, die flüstern, sich ausdehnen, stöhnen und sich emporschwingen, werden von einer Geigenstimme begleitet, die im ständigen Wechsel, die Stimme spiegelt, kontrapunktiert oder in die Rolle ihres Schattens schlüpft.

Mehrere Jahre später begann Ashkan mit der Arbeit an Love, Crystal and Stone für TAK, das sich als eines der ehrgeizigsten Projekte herausstellte, das wir je in Angriff genommen hatten. Der abendfüllende Liederzyklus vertont Lyrik von Federico García Lorca in sieben Sätzen. Im Iran aufgewachsen, war Ashkan stark von den Tonaufnahmen Ahmad Shamlous beeinflusst, der diese Gedichte in seiner Farsi-Übersetzung liest. Sie fangen die Intimität von Lorcas Lyrik ein und versehen sie mit einer zusätzlichen Ebene zeitgenössischer persischer Bezugspunkte, die wie Ostereier in den Übersetzungen versteckt sind. Die musikalische Gestik in Love, Crystal and Stone spiegelt den Ton der Lesungen wider, in der Weise, wie die Sätze von der Zunge, vom Bogen oder von der Trommel zu rollen scheinen, als würde man mit sich selbst sprechen. In Deseo und La granada, dem ersten bzw. letzten Satz verhallen fragmentierte Melodien und kräuseln sich wie Rauch; in Arqueros brodelt ein energisch zurückhaltender Prolog vor Erwartung, bis sich die Spannung in einer Wolke von Impulsen entlädt, die wie Pfeile durch die Luft peitschen. In Ay! El grito en el viento werden abgehackte dramatische Ausbrüche wiederholt durch anhaltendes bedeutungsvolles Schweigen und spannungsgeladene Töne in den extremen oberen und unteren Stimmlagen unterbrochen und akzentuiert. Im Jahr 2022 veröffentlichte TAK eine Studioaufnahme des kompletten Zyklus zusammen mit einem Begleitheft, das die Gedichte auf Spanisch und in Farsi-Übersetzung sowie Drucke von Gemälden des iranischen Künstlers Mehrdad Jafari und Essays von Saharnaz Samaeinejad enthält – eine angemessene multimediale Präsentation für ein Werk, das sich mit einer so reichhaltigen Bandbreite an Inhalten über das Musikalische hinaus auseinandersetzt.

Zuletzt habe ich als Solistin mit Ashkan in seinem Stück how quiet – at the bottom of a lake, peaks of clouds (2023) zusammengearbeitet. Der Titel des Werks ist die Übersetzung eines Haikus des Dichters Kobayashi Issa aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Der von ihm selbst gewählte Name „Issa“ bedeutet in etwa „ein Tee“ oder, so der Dichter Robert Hass, “eine einzelne Blase in einem Tee, der noch zieht“. Auch hier ist die Poesie der Ausgangspunkt. Die Worte beschwören eine bizarre, beinahe unheimliche Stille herauf. Man stellt sich vor, wie der Verfasser vom Grund des Sees nach oben blickt und die Wolken durch die Wasseroberfläche sieht. Ist er tot? Nichts weist darauf hin, dass er bewusst den Atem anhält, keine Spur von Dringlichkeit oder Erwartung. Die Zeit scheint beinahe zum Stillstand gekommen zu sein. Ähnlich wie das Gedicht scheint auch das Stück außerhalb der Zeit zu existieren. Es ist fast durchgehend extrem leise, und der Interpret/die Interpretin wird angewiesen, nach Belieben leise mitzusummen. Die harmonische Palette basiert auf einer von Ashkan intuitiv entwickelten mikrotonalen Tonleiter, die sämtliche intervallischen Beziehungen geringfügig aus dem Gleichgewicht bringt und dadurch das Gefühl erzeugt, als würde man orientierungslos im harmonischen Raum treiben. Viele der Gesten sind choreografisch komplex und erfordern an der Geige große Bewegungen, die nur wenig Ton hervorbringen. Es ist Musik, die man sich selbst vorspielt, für sich selbst, mit großer Sorgfalt. Das Publikum ist eingeladen, sich im selben Raum aufzuhalten und wie Voyeure mitzuhören, während die Geige eine zarte, anspruchsvolle Melodie vorträgt und sich durch sie hindurchkämpft. Es gibt hier eigentlich keinen Sinn für Entwicklung; es spielt sich in einem Raum des Nachsinnens und einer Endlosschleife ab und kehrt immer wieder zu ähnlichen Phrasen zurück, die sich nie vollständig aufzulösen scheinen. Jeder Durchlauf ist einzigartig, und doch kommt es uns zunehmend so vor, als hätten wir ihn schon einmal gehört. Rückblickend verstehen wir, dass die Stille und Ruhe, die wir bis dahin die meiste Zeit empfunden hatten, im Vergleich zum letzten Abschnitt beinahe chaotisch und unstet war. Wir verlassen das Stück zumindest mit einem Gefühl von Klarheit und Konzentration, wenn nicht gar von Erlösung – mit einer gewandelten Perspektive dessen, was bereits vorhanden war. Von allen Musikstücken Ashkans scheint mir dieses das Bild vom Komponisten als Schnecke am vollkommensten zu verkörpern.

In diesem Essay habe ich mich auf die Besprechung der Werke von Ashkan beschränkt, an denen ich selbst als Interpretin/Mitarbeiterin direkt beteiligt war, doch umfasst sein Œuvre viele weitere bedeutende Werke, die erwähnenswert wären. Sowohl Carnivalesque (geschrieben 2014 für das Talea Ensemble, überarbeitet für das Divertimento Ensemble und aufgenommen von Oerknal) als auch Convex (2019–2020, für das Grossman Ensemble) entwickeln zentrale harmonische oder rhythmische Kernideen durch Fragmentierung und Transformation in ein expandiertes Universum; Till-Still-Again (2016, für Yarn/Wire und Ekmeles) ist eine mitreißende Interpretation der Lyrik von Samuel Beckett, die auf die Resonanz von Klavier und Schlagzeug, A-Capella-Stimmen in mikrotonalen Clustern und auf wilde Schreie und Glissandi zurückgreift, um den aufrüttelnden absurden Text mit Leben zu füllen; Five Sketches for String Quartet (2017, für JACK Quartet) ist ein Lehrstück für das Komponieren von Streichquartetten, jeder Satz eine eingehende Untersuchung einer besonderen und komplizierten Idee, eine Art mikroskopischer Blick in die inneren Abläufe eines Zellkörpers – um nur einige zu nennen.

Alle Werke Ashkans vermitteln gleichermaßen ambitionierte Klangwelten und demonstrieren seine bemerkenswerte Fähigkeit als Komponist, komplexe Formen in organische und poetisch-logische Strukturen einzubinden. Sein Interesse an der Poesie, die Idee, Gedichte laut zu rezitieren, ist ein roter Faden – selbst seine außergewöhnlichsten Texturen, von den verworrenen Gespinsten aus Schreien und Rufen bis hin zu den innigen Wiegenliedern an der Grenze des Hörbaren, scheinen sich nach Kommunikation und menschlichem Ausdruck zu sehnen. Es herrscht eine gewisse  Zwangsläufigkeit in dieser Musik, die Einsicht, dass es gar nicht anders sein könnte. Der Komponist bewegt sich langsam durch die Welt, verinnerlicht seine Lebensumstände und Erfahrungen und hinterlässt immer eine Spur. Aber mir scheint, dass Ashkan mit dem Schluss seiner Metapher zu bescheiden war. Als entschiedene Anhängerin und Bewunderin seines Werks bin ich mir sicher, dass seine Musik eine dauerhafte Spur hinterlässt, die sich nicht so schnell verflüchtigen wird.