Förderpreis Komposition 2025

Kristine Tjøgersen

Essay

Where the Wild Things Are / Wo die wilden Kerle wohnen
Zur Musik von Kristine Tjøgersen

von Jennifer Gersten

Die Schlafzimmerschränke der norwegischen Komponistin und Klarinettistin Kristine Tjøgersen sind vollgepackt mit Plastikröhrchen, Stricknadeln, Küchenschwämmen und Ähnlichem – eine Art Treibgut, das nach herkömmlichen Maßstäben eigentlich als Hausmüll entsorgt werden müsste. Doch für die Verwirklichung eines Oeuvres, das den Kuriositäten der Natur geschuldet ist, sind die Materialien ein unentbehrliches Werkzeug. Um das klackende Geräusch einer freudig aufschnappenden Krabbe hervorzubringen, ziehe man ein Röhrchen entlang einer Cellosaite. Für das Blubbern schwimmender Meeresschnecken schnipse man eine Nadel, die am Griffbrett einer Geige befestigt ist. Und wenn es um Bäume geht, die über ihre Wurzeln miteinander flüstern, wische man mit einem Schwamm über eine Trommel.

Solche Lösungskonzepte zur Tonerzeugung stammen von einer Komponistin, die ihr Künstlerinnenleben von Anfang an dem Spiel verschrieben hat. Die aufstrebende Musikerin, die in dem winzigen norwegischen Dorf Sagesund aufwuchs und die Klarinette wählte, weil der Klang sie an Karamell erinnert und die Form an einen Zauberstab, fühlte sich schnell zum Experimentieren hingezogen. Ihre Inspiration fand sie in der Orchestermusik, doch am meisten genoss sie das, was sie erreichte, wenn sie allein spielte und die Geräusche machen konnte, die ihr gerade in den Sinn kamen. Im Gymnasium fing sie an, ihre Klarinette auseinanderzunehmen und mit den einzelnen Teilen zu improvisieren. Sie fragte sich, auf welches Wagnis sie sich einlassen würde, wenn sie gerade auf die Erde gefallen wäre und das Instrument zum ersten Mal in der Hand halten würde. Derartige Gedanken hielt Tjøgersen allerdings geheim, wohlwissend, dass ihre Lehrer solche unorthodoxen Methoden nicht billigten, weil dadurch ihre klassische Technik gefährdet würde. Eine Zeitlang tat sie, was man ihr sagte, auch wenn sie sich durch ihren Fleiß allmählich wie „eine Klarinette auf zwei Beinen“ fühlte. Schließlich wollte sie dann alles unter einen Hut bringen – am Tag Freiberuflerin in Orchestern, in der Nacht zeitgenössische Musik spielen, sich bis in den Morgen hinein mit Leuten treffen und dann das Ganze wieder von vorn.

Mit Anfang 30 setzte bei Tjøgersen eine Zeit des Umdenkens ein. Um besser mit allem zurechtzukommen, trat Tjøgersen nicht mehr auf und ihr Kalender leerte sich zusehends. Was sollte sie auch sonst tun, wenn ihr allein beim Anblick ihres Instruments unbehaglich zumute wurde? Sie überlegte, sich an einer Kunsthochschule zu bewerben, zumal sie sich immer schon mit Bildender Kunst beschäftigt hatte, begann aber auch, ernsthaft zu komponieren. Frühe Arbeiten verbanden ihr Interesse an visueller Kunst mit ihrem Interesse an Klang und übersetzten die Gestik von Rockstars oder Bollywood-Tänzen in übersprudelnde Klangtexturen für kleine Kammermusikgruppen, befreundeter Musikerinnen und Musikern. Travelling Light (2015) beispielsweise, das während dieser College-Zeit für das von ihr mitgegründete Musikkollektiv neoN entstand, imaginiert die aus einem Tunnel heraus gefilmten lautlosen Muster und Farben des Lichts als pointilistische Landschaft aus Glissandi, Wind, und Groove.

Obwohl sie nun mehr produzierte, betrachtete sich Tjøgersen immer noch nicht wirklich als Komponistin. Aber die deutsche Komponistin Carola Bauckholt tat dies: Nach einer Probeaufführung des norwegischen Ensembles asamisimasa, in dem Tjøgersen Klarinettistin war, fragte Bauckholt beiläufig, ob sie auch selbst komponieren würde. Die perplexe Tjøgersen hätte nun gern gewusst, was Bauckholt auf diese Idee gebracht haben könnte – vielleicht etwas an der Art, wie sie gespielt hatte, oder wie natürlich ihr die kompositorische Sprache zuzufliegen schien, aber wer konnte das schon wissen? Komm doch zum Abendessen, sagte Bauckholt, und bring deine Partituren mit. Tjøgersen sagte zu.

Monate später kam Tjøgersen nach Linz, um bei Bauckholt Komposition zu studieren. Dank der Ermutigung ihrer Lehrerin gewann sie das Selbstvertrauen, ihren eigenen Weg zu gehen. Ihre Arbeiten ließen sich nun mehr von der Natur inspirieren, die sie, aufgewachsen inmitten von Fjorden, Waldpfaden und Skipisten, seit ihrer Kindheit liebte. Between Trees (2021) ist von dem weit verzweigten Geflecht der Pilzfäden inspiriert, durch das die Bäume Wasser und Nährstoffe austauschen. Es inszeniert ein ausgelassenes Treiben von den Wurzeln eines Waldes bis hinauf zu den Baumkronen, zu denen sich das Orchester am Ende des Stückes in überschäumenden Harmonien für Oboe und Blechbläser emporschwingt. Tjøgersens Faszination für Datensätze über den Zeitpunkt und das Muster des Leuchtens von Glühwürmchen führte zu Bioluminescence (2017), einem Orchesterwerk, das in Dunkelheit beginnt, während die Musiker blinkende LEDs schwingen, ein Hinweis auf die leuchtenden „Musen“ des Werks.

Obwohl Tjøgersens Schöpfungen durch viel Forschungsarbeit untermauert sind – Reisen in den Norden, um pelagische Vögel akustisch aufzunehmen, Mitwirkung eines Biologen in einem Team für Theaterproduktion, Aufnahmen von Fledermäusen in Oslo mit Hilfe eines Detektors, den sie in ihrer Tasche hat –, sind ihre Ergebnisse wenig schematisch. Sie liefert uns keine Fakten, aber Raum für Fantasie. Eine Partitur von Tjøgersen mutet außerirdisch an und ist gleichzeitig konkret. Sie umhüllt reine Experimente mit avantgardistischen Pop-Harmonien, Dancefloor-Rhythmen und klassischen Klängen, für die man nichts weiter als ein großes Herz braucht, um Zugang zu ihnen zu finden. In dem Kammermusikstück Habitat (2022) legen die Musiker ihre Instrumente nieder und singen ein anrührendes Lied mit Synthesizer-Begleitung. In Piano Piece und Piano Concerto (2020/2019) drückt die Pianistin kein einziges Mal die Tasten. Der Klang entsteht vielmehr dadurch, dass sie kleine Plastikbäume, die sie in einem Modellbahnladen in der Nähe ihrer Wohnung gekauft hat, immer unkontrollierter über die Saiten des Instruments zieht.

Es ist vielleicht für alle Beteiligten das ehrgeizigste Werk Tjøgersens, ein auf surreale Weise erschütterndes Porträt unserer Beziehung zu unserem Planeten. Der Schluss ist so bizarr, dass man möglicherweise gar nicht bemerkt, wie nass die Wangen am Ende geworden sind. Die Wirkung solcher kreativer Impulse ist jedoch weniger explizit aktivistisch als bei Attenborough: Ihre Idee ist, dass wir, wenn wir unsere Ohren für die Schönheit öffnen, verstehen werden, warum es sich lohnt, diese zu bewahren.

Zunehmend arbeitet Tjøgersen auch als Regisseurin. Sie koordiniert multidisziplinäre Teams, um Werke zu schaffen, die Welten in und für sich selbst sind: BOWER (2021/22), die Inszenierung einer Ode an den australischen Laubenvogel, und Nattliv („Night Lives“) (2024), ein musiktheatralisches Spektakel über Geschöpfe der Nacht, vereinen Szenografie, Kostüme und Komposition, um die Bühne zu einem Lebensraum zu machen und die Musiker zu einer eigenen tönenden Spezies. Weil solche Konzepte in ihrem Kopf so bereitwillig gedeihen, spürt Tjøgersen, dass ihre Projekte immer noch größer werden. Die zugrundeliegende Prämisse bleibt jedenfalls immer dieselbe. Diese Musik lebt von der Vorstellung, dass man überall dort, wo man bereit ist hinzusehen, Staunen findet – den Wald im Klavier, die Krabbe im Cello, den Vogel in der Geige.

Jennifer Gersten ist eine Violinistin und Journalistin aus Queens, New York.