Yiqing Zhu, Komponist, Shanghai, China, Ernst von Siemens Musikstiftung, Preisträger

Förderpreis Komposition 2024

Yiqing Zhu

Essay

Beständige Unbeständigkeit

von Li Mingyue

Das tägliche Bemühen, im Denken zwischen verschiedenen Wissensbereichen hin und her zu pendeln, kommt in Zhu Yiqings Musik genauso zum Ausdruck wie in seinen Notizen, die er in seinen Arbeitspausen anfertigt. Gedichte, Reisetagebücher und Essays stehen beispielhaft für die verschiedenen Kanäle seines sprachlichen Ausdrucks. In den Notizen werden Glossen zu oft typologisch formalisierten Begriffen aus Mathematik, Mikroökonomie und kognitiver Psychologie, die die Entfaltung seines musikalischen Werks in mehreren Serien spiegeln, mit spontanen Bemerkungen zu künstlerischen, philosophischen und sozialen Gegenwartsfragen verflochten. Der Grundgedanke hinter dieser Praxis? Die Überzeugung, dass eine heuristische Übertragung wissenschaftlicher Konzepte auf musikalisches Wissen hilfreich sein kann bei der Entwicklung neuer Wege, Musik zu imaginieren. Eine Art Neugier, wie weit sich zwei scheinbar nicht vergleichbare Dinge einander annähern können, ist zunehmend zu einer treibenden Kraft in Zhu Yiqings Komponieren geworden.

Während das Interesse an Tontechnologie und KI zunimmt, schwelgt Zhu Yiqing in einem überschäumenden Soundscape: Flüchtige Mikrogesten breiten sich in einem verdichteten Zeitrahmen aus, flitzen, prallen ab und zucken in den größtmöglichen räumlichen und dynamischen Spielräumen. Eine janusköpfige Intensität nimmt Gestalt an. Einerseits ist dies hier hyper-energetische Musik und so konkret, dass Klänge zu greifbaren Objekten werden. Diese Sensibilität strahlt puren Überschwang aus – Beweis für die Befriedigung und Stimulation, die Zhu Yiqing in der Computerkomposition gefunden hat, einem Bereich, von dem er sich jetzt wünscht, dass er ihn schon früher betreten hätte. Andererseits vereinnahmt diese Musik auch durch ihre handwerkliche Raffinesse, die interessanterweise in beinahe anachronistischem Gegensatz zur Welt der Codes steht und Zhu Yiqings Begeisterung in kristalline Filigrangebilde, wasserdichte Strukturen und fein proportionierte Formen hineinwebt. Die eingehende Beschäftigung mit algorithmus-basierter Klangsynthese und Live-Bearbeitung in Stuttgart hat sich als Wendepunkt erwiesen (Zhu Yiqing studierte bei Marco Stroppa). Der digitale Ansatz regte ihn dazu an, Klang, Zeit, Natur und die Endlichkeit menschlicher Wahrnehmung in einem neuen Licht zu sehen, und brachte ihn zu dem besonderen Modus Operandi, sich ständig zwischen zwei Milieus zu bewegen, nämlich dem eines vitalen qualitativen Materialismus und dem der digitalen quantitativen Simulacra, um es in Jean Baudrillards Worten zu formulieren. Ein solches Oszillieren führt schließlich dazu, dass eins der ursprünglichen Milieus ständig mit Mustern des anderen überflutet wird. Die Idee des Übersetzens und Transkodierens ist zweifellos der Kern digitaler Technologien. Als besonders fruchtbar erwiesen hat sich diese Idee auch in Zhu Yiqings kompositorischem Ansatz, der immer darauf aus ist, Grenzen zu sprengen – Grenzen zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen, dem technologisch Manipulierten und dem körperlich Verwurzelten, zwischen Instrumentalität und Vokalität und zwischen menschlicher Handlungsfähigkeit und einem Netz gemischter Kräfte, die Situationen und Ereignisse beeinflussen.

In dieser Orientierung ist eine Serie elektroakustischer Werke verankert, die Zhu Yiqing in einer Phase komponierte, als er auf der Suche nach einer “von Granulation inspirierten” Ästhetik war. Das Erbe der Granularsynthese, die den Weg ebnete, Klang als unendlich spaltbare und formbare Partikel darzustellen, und das Universum dessen weit öffnete, was Xenakis einmal als „Mikrokomposition“ bezeichnete, floss in Zhu Yiqings klassische Ensembles und Orchester ein. Der Kern dieser Musik deutet sich im Titel eines jeden Werks an: verschiedene Flexionen, zusammengehalten durch das chinesische Schriftzeichen “”, das so viel wie zertrümmert, zerbrochen, pulverisiert bedeutet. Dieses semantische Bild und das entsprechende Phonem – sui, ein inhaltsloser Zischlaut – versinnbildlichen zusammen den Klangarchetypus, der diese Musik definiert: “Geräusch”-Splitter oder -Tröpfchen, Spucken, Spritzen, Streuen. Anomal im Spektrum, explosiv in den Bewegungsabläufen. So wie Pixel immer dichter werden, stellt uns die granulare Verarbeitung mit ihrem quantitativen Realismus-Ansatz vor das Rätsel der Auflösungen von Wahrnehmung. Doch so sehr die Berechnung der Wahrnehmungsdifferenz – die “Kleinheit” – Zhu Yiqing faszinieren mag, so bleibt doch die biologische Grundlage der Wahrnehmung ein entscheidender Faktor. So erfährt man im Kreislauf und in den Mikromutationen winziger Klangscheibchen eine Art modulierter Differenz, die sich nicht in quantitativen Unterteilungen oder einer Negation von Identität manifestiert, sondern in qualitativen Ähnlichkeiten, die einer Nicht-Identität nahekommen. Erfrischend wirkt ein auf diese Weise gesättigter Minimalismus sowie eine Intermittenz, die sich unablässig verjüngt. In Le ciel écrasé 碎穹 (2018) wird der rastlose Fluss von Klangscherben behutsam durch Bojen gesteuert, die gewissermaßen als kognitive “Brücken” dienen: ein kurzes, krampfhaftes, morsecodeähnliches Ostinato zum Beispiel oder Verdopplungen einer Oktave in Clustern, deren Reinheit und Einfachheit denen eines Sinustons ähneln.

Ein beiderseitiges Werden ist hier ein zentrales Gestaltungsmittel. Während die grobkörnigen und federnden Klänge des Tenorsaxophons in L’oeil brisé 碎瞳 (2017) die durchbrochenen Klänge der Elektronik widerspiegeln, ist auch ein “Instrumental-Werden” der Elektronik im Gange: synthetische Cut-Ups, in Notenschrift festgehalten, als wären sie Perkussion ohne Tonhöhe, füllen leere Risse und bilden eine mikrokontrapunktische Linie zum Soloinstrument. Wenn, wie im Fall von Le visage déchiré 碎脸 (2017), dieses duale Werden bearbeitete und nicht bearbeitete menschliche Stimmen einbezieht, stellt sich etwas Beunruhigendes ein: Andeutungen von stimmlicher Wärme und das Haspeln zerbrochener Silben rücken eine zutiefst polemische Stimme in den Vordergrund. Ob es sich hier um ein schäumendes Subjekt am Rande des völligen Zusammenbruchs handelt oder eher um einen “Geist in der Maschine”, bleibt rätselhaft bis zum Epilog, in dem ein Cyborg-Sopran, der nun ins Rampenlicht gerückt wird, eine unbeschwerte, aber energische Schlusskadenz singt. Vanishing Chant (2019) bringt dies auf die nächste Ebene. Sechs Stimmen agieren als allmächtiger menschlicher Synthesizer – eine kompromisslose Simulation (stimmlich) der Simulation (digital). Zur Menschlichkeit des Stücks trägt ein Text aus einem Krimi von Agatha Christie bei, den Zhu Yiqing möglicherweise gewählt hat, um mithilfe der außergewöhnlichen stimmlichen Plastizität und Theatralik ein Markenzeichen von Christie wieder aufleben zu lassen: In einem Spiel mit dem Schein ist nichts ganz so, wie es zu sein scheint.

Während Verwandlung und Rückverwandlung zwischen den Medien Zhu Yiqings Inspiration auch weiterhin vorantreiben, reift zunehmend eine kulturelle Sensibilität heran. Die Jahre, als Zhu Yiqing an der Musikhochschule Shanghai Komposition studierte, bekunden eine ästhetische Realität, in der standardisierte Idiome, die auf historischen Modellen der europäischen Neuen Musik beruhen, mit zwei weiteren Tendenzen einhergingen: Widerstand gegen einen abgehobenen Akademismus und das neu empfundene Bedürfnis, eine chinesische kulturelle Identität zu artikulieren. Zhu Yiqings Pluralismus zeichnete sich schon in seinen frühesten Werken ab und beinhaltet sowohl die Akzeptanz als auch die Negation einer solchen Realität. The Silence of Borobudur (2014) mäandert durch ein Labyrinth, in dem sich musikalische Altertümer aus Japan, Indonesien und China miteinander mischen. Das Stück nahm eine fortlaufende Serie (“Chinese Poetry”) vorweg, die sich mit dem chinesischen und ostasiatischen Erbe des Komponisten auseinandersetzt und dabei die stilistischen Klischees vermeidet, die so oft mit einer essentialistischen Sichtweise kultureller Identität verbunden sind. So gesehen lassen sich wohl auch die raffinierte polyphone Technik und die Inhalte der Formenlehre für Zhu Yiqings kulturelle Selbstverortung betrachten. Diese kommen deutlich zur Geltung in DeepGrey (2020) für Orchester, Gewinner des Ersten Preises des Basler Kompositionswettbewerbs, sowie in einer Reihe weiterer Werke, die die barocke Suite neu interpretieren, darunter Partita (2019), eine Serie von fünf virtuosen Concertinos. In letzter Zeit sickerte eine ständig zunehmende Vielfalt von Einflüssen in seine Musik ein, darunter Metal, Techno und Glitch. Diese Elemente scheinen sich jedoch weder zu konsolidieren, noch scheinen sie sich gegenseitig die Vormachtstellung streitig zu machen. Dies zeigt sich bei DeepBlue (2020) und DeepVoid (2022). Ersteres, ein Capriccio für großes Ensemble und Elektronik, ist gekennzeichnet durch ein poröses Milieu, in dem Jazzfetzen, elektronisches Pochen, Knistern, Fiepen und Alltagsgeräusche wie Herzschlag und Radiosprache frei ein- und ausgehen, während sie sich gegenseitig filtern und formen. In letzterem durchziehen atmosphärische Anspielungen auf Gamelan und alte volkstümliche Gesänge ein durch und durch westliches und kanonisches Genre – das Streichquartett. Die chamäleonartige Anpassungsfähigkeit hinter einer derartig kapriziösen musikalischen Assemblage, die ständig „auf dem Weg zur Deterritorialisierung” ist, um mit Deleuze zu sprechen, geht eher auf einen ausgeprägten Hang zu Fluidität und Wandel zurück als auf Zhu Yiqings tatsächlicher transkontinentaler oder interkultureller Erfahrung.

Es überrascht nicht, dass das vorangestellte “Deep” in Yiqings Arbeitstiteln auf das zurückgeht, was dem Aufstieg des Deep Learning vorausging: Deep Blue, der ersten Schachroboter, der einen menschlichen Experten schlug. Zhu Yiqing sieht darin ein Zeichen der Kreativität, die ihn ins Unbekannte und Unvorhersehbare führen würde. In diesem Sinn verweist er auch auf die Idee der Faltung, womit ursprünglich eine mathematische Operation bezeichnet wird, die eine Funktion mit einer anderen koppelt.

Bei der digitalen Bildverarbeitung entsteht durch Faltung beispielsweise eine Informationsvermengung, die das rein Numerische in etwas “Wahrnehmbares” verwandelt. Und genau diese Schwellen überschreitende Transformation macht hier den Reiz aus. Zhu Yiqings jüngstes Experimentieren bezieht Berührungs- und Bewegungssensoren sowie die Visualisierung akustischer Daten/Messwerte ein. Das Gestalten, Verformen und Schmelzen von Klängen wird somit in der sensorischen und physischen Dimension noch realer (oder surrealer). Und was folgt dann? Wir wissen es noch nicht. Sicher ist jedoch, dass hier ein wagemutiger, vorbehaltloser und zärtlicher Geist am Werk ist. Um zu unserem Ausgangspunkt zurückzukommen, an dem wir begonnen haben, nämlich Zhu Yiqing als leidenschaftlichen Autor zu betrachten: Wie die Reisetagebücher bezeugen, hat er sich auf seinen Streifzügen durch die verschiedenen Ecken Europas nie zurückgehalten zu staunen, Sympathie und Rührung zu empfinden, sich zu verausgaben und vor allem seine Fühler in unbekannte Richtungen auszustrecken.

Übersetzung von Gudrun Brug