Ernst von Siemens Musikpreis 2013

Mariss Jansons

Essay

von Dieter Borchmeyer (Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und Stiftungsratsvorsitzender der Ernst von Siemens Musikstiftung)

Mariss Jansons nennt sich gerne einen glücklichen Menschen. Das aber war ihm nicht in die Wiege gelegt, als er am 14. Januar 1943 als Spross einer lettischen Musikerfamilie in Riga geboren wurde. Die Familie Jansons – sein Vater Arvid Jansons war Dirigent, seine Mutter Iraida Sängerin an der Oper in Riga – erlebte bedrohliche Zeiten zwischen der Skylla der nationalsozialistischen Besatzung und der Charybdis des stalinistischen Terrors nach der Rückeroberung Lettlands durch die Sowjetunion. Seit dem Tode Stalins besserten sich die Verhältnisse, aber der Druck des sowjetischen Systems lastete weiterhin auch auf der Kultur. Seine positive Kehrseite war die strenge Disziplin der Musikausbildung, die Jansons trotz ihrer Schattenseiten wiederholt gerühmt hat. Freilich: Musik als größtes “Stimulanz des Lebens” im Sinne Nietzsches war hier nicht gefragt. Auf Mariss Jansons lastete der Kaderdrill der sowjetischen Musikausbildung besonders, denn er wurde stets an seinem Vater gemessen. Von ihm verlangte man mehr als von anderen Musikstudenten, und zeitlebens spürte er den Zwang, immer das Beste geben zu müssen. Er selber forderte von sich mehr, als ihm oft gesundheitlich zuträglich war, internalisierte die Normen seiner kulturellen Umwelt, um vor dem Vater bestehen, dem Über-Ich entsprechen zu können. Seinen Vaterkomplex hat er nie verleugnet. Pflichtgefühl und Verantwortungsbewusstsein bilden bis heute die moralische Basis seines Künstlertums.

Jansons wuchs quasi im Opernhaus auf. Die Eltern nahmen ihn vom frühesten Alter an dorthin mit. Er hat die Oper buchstäblich mit der Muttermilch aufgesogen. Schon als Kind kannte er die meisten Stücke des Repertoires mehr oder weniger auswendig. Umso erstaunlicher, dass die Oper in seiner Dirigentenlaufbahn deutlich in den Schatten seiner Konzerttätigkeit geraten wird. Sein Elternhaus war nicht nur von Musik imprägniert. Hier trafen sich Musiker wie Poeten und Maler, es war ein Treffpunkt der Kulturelite Rigas, und auch der Respekt vor der deutschen Kultur wurde dem angehenden Musiker eingeflößt – trotz des Grauens, das Deutschland während des Zweiten Weltkriegs in Lettland verbreitet hatte!

Als Mariss Jansons gerade dreizehn Jahre alt ist, verlässt der Vater Riga und wechselt als zweiter Dirigent neben Jewgenij Mrawinskij ans Pult der Leningrader Philharmonie. Mariss wird natürlich aufs Konservatorium in Leningrad geschickt, studiert Violine, Bratsche, Klavier sowie Orchesterleitung – und muss erst einmal Russisch lernen, hat er doch bisher ausschließlich Lettisch gesprochen. Leningrad, das seit 1991 wieder Sankt Petersburg heißen soll, wird seine zweite Heimatstadt neben Riga. Dort hat er bis heute seinen Hauptwohnsitz. Nur hier fühlt er sich wirklich zu Hause.

Bei einem Meisterkurs in Leningrad 1968 wird Herbert von Karajan auf Jansons aufmerksam. Und so gelingt ihm das Unglaubliche: Er darf 1969 die Sowjetunion verlassen, um in Wien bei dem epochemachenden Dirigierlehrer Hans Swarowsky zu studieren – durch dessen Schule die halbe heutige Dirigentenelite gegangen ist – und Assistent von Herbert von Karajan in Salzburg zu werden. Der Preisträger beim Berliner Karajan-Wettbewerb 1971 wird schließlich – in den Spuren seines Vaters – Assistent von Jewgenij Mrawinskij bei den Leningrader Philharmonikern. Mrawinskijs Bedeutung sollte für Jansons noch größer sein als die von Swarowsky und Karajan. Er ist für ihn geradezu eine künstlerische Vaterfigur geworden. Nicht nur der Dirigent Mrawinskij, auch seine charismatisch-imperatorische Persönlichkeit hat Jansons nachhaltig geprägt. Ihm hat es nicht zuletzt imponiert, dass Mrawinskij sich stets seine Freiheit im sowjetischen Staat bewahrte, kein Parteimitglied war und seine Distanz zum sowjetischen System zum Beispiel dadurch zum Ausdruck brachte, dass er es permanent vermied, bei Jahrestagen der Oktoberrevolution sein eigenes Orchester zu dirigieren. Jansons Interpretationen der russischen Musik sind durch Mrawinskijs Dirigate vor allem der Symphonien von Tschaikowsky – die er in seiner asketischen Strenge von aller Sentimentalität und allem Bombast befreite – und Schostakowitsch entscheidend inspiriert worden.

Jansons war kein frühreifes Pultgenie, gelangte erst mit rund vierzig Jahren zu Weltruhm. 1979 wurde er neben seiner Tätigkeit bei den Leningrader Philharmonikern Chefdirigent eines Provinzorchesters: der Osloer Philharmoniker. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich dieses Orchester unter Jansons erzieherischer Leitung zu einem der besten Klangkörper Europas. Wie an allen Stätten seines Wirkens kümmerte er sich nicht nur um die musikalische Qualität seines Orchesters, sondern auch um dessen humane und soziale Intaktheit, was im Falle des Osloer Orchesters zunächst einmal bedeutete, dessen Mitgliedern eine angemessene Besoldung zu verschaffen, waren die Musiker doch bis dahin auf Nebeneinnahmen angewiesen, um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Auf dem Höhepunkt des Ruhms der Osloer Philharmoniker – denen Jansons bis 2001 als Chefdirigent treu geblieben ist – wurde er wie ein norwegischer Nationalheld gefeiert. Fast wäre seine Karriere 1996 in Oslo jäh beendet worden, als der sich ständig Überfordernde beim Dirigieren der letzten Partiturseiten von La Bohème einen lebensbedrohlichen Herzanfall auf dem Podium erleidet – und noch im Fallen weiterdirigiert. Erschreckende Nähe erneut zu seinem Vater: Dieser war in einem Konzert des Hallé Orchestra in Manchester am 21. November 1984 beim Dirigieren zusammengebrochen und wenige Tage später verstorben.

1992–1997 ist Jansons Erster Gastdirigent des London Philharmonic Orchestra, 1997–2004 als Nachfolger von Lorin Maazel Music Director des Pittsburgh Symphony Orchestra. Und wiederum löst er Maazel 2003 als Chefdirigent von Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks ab. Die gleiche Position nimmt er seit 2004 beim Koninklijk Concertgebouworkest in Amsterdam ein. Mit dem BR-Symphonieorchester hat Jansons inzwischen alle Musikzentren der Welt bereist. 2005 führt sie die erste gemeinsame Tournee nach Japan und China, 2006 und 2009 finden stürmisch gefeierte Konzerte in der New Yorker Carnegie Hall statt, 2007 eine Aufführung von Beethovens Neunter Symphonie im Vatikan vor Benedikt XVI., um nur einige Höhepunkte in Jansons gemeinsamem Wirken mit dem BR-Symphonieorchester zu erwähnen. Die bedeutendsten Auszeichnungen und Preise sind Jansons verliehen worden; er ist Mitglied der Royal Academy of Music in London wie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und des Bayerischen Maximiliansordens für Wissenschaft und Kunst. Und das Adelsprädikat für Dirigenten ist ihm zuteil geworden: Zweimal haben ihm die Wiener Philharmoniker ihr Neujahrskonzert übertragen. Wohl der Höhepunkt aller Ehrungen aber wird die Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises an ihn im Münchner Prinzregententheater am 4. Juni 2013 sein, der ihn in eine Reihe mit Dirigenten wie Claudio Abbado, Leonard Bernstein oder Herbert von Karajan stellt.

Unter den internationalen Städten, so hat er gestanden, sei München seine Lieblingsstadt – wenn sie seinem Herzen auch nicht so nahe stehen kann wie seine Heimatstädte Riga und Petersburg. München ist ihm eine der spezifischen Musikstädte, in denen Musik Teil der Mentalität ist: wie Berlin, Amsterdam, Tokio, Wien und Salzburg, Dresden und – mit Abstrichen – London. Das Münchener Musikpublikum reagiert nach seinen Beobachtungen weniger überschäumend und neugierig, als er es aus anderen Städten kennt, aber mit seiner konservativen Nüchternheit doch fast immer kenntnisreich. Worunter er in München leidet, ist freilich das Fehlen eines akustisch wirklich angemessenen großen Konzertsaals, der dem – zwischen inadäquaten Sälen herumirrenden – Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks endlich eine Heimat bieten könnte. Große orchestrale Klangkultur kann sich nach Jansons Überzeugung und Erfahrung nur entfalten, wenn die Saalakustik perfekt ist. So ist sein Hauptziel für München ein Konzertsaal, der wie der Wiener Musikvereinssaal, die Philharmonie in Berlin oder das Amsterdamer Concertgebouw Musik wirklich so erklingen lässt, wie sie von Dirigent und Orchester erzeugt wird.

Spätestens seit seiner Osloer Zeit gilt Jansons nicht nur als einer der bedeutendsten Dirigenten unserer Zeit, sondern als begnadeter Orchestererzieher. Der Dirigent darf ein Orchester nicht beherrschen, so die Grundüberzeugung von Jansons, sondern er muss dem jeweiligen Orchester dienen, seinen Schwerpunkten nahe kommen, Respekt vor seiner Individualität haben. Jedes Orchester hat seinen eigenen ,Ton’. So gehört etwa Mahler für Jansons zu Amsterdam wie Strauss zu München.
Ein besonderes Anliegen ist ihm die musikalische Früherziehung. Unermüdlich plädiert er leidenschaftlich für die stärkere Integration der musikalischen Bildung in Vorschule und Schule. Die Arbeit mit jungen Musikern, etwa dem Gustav Mahler Jugendorchester, der Akademie des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks und anderen Jugendorchestern ist ihm eminent wichtig. Für sie hat er sich trotz seines dichten Terminplans und seiner gesundheitlichen Rückschläge immer wieder Zeit genommen. Das gehört zu dem, was er seine Haupttugend nennt: Verantwortungsbewusstsein.

Die Erfahrung mit der drakonischen Strenge der sowjetischen Musikerziehung hat ihn deren Licht- wie Schattenseiten einzusehen gelehrt und auf einen goldenen Mittelweg geführt: das heißt sachliche Autorität auszuüben, ohne je als Herrscher vor das Orchester zu treten. Von den Musikern Disziplin und Unterordnung unter ein Gesamtkonzept, unter die Vorgaben des Dirigenten, zu erwarten, und sie doch niemals einzuengen, ihnen freie Entfaltungsmöglichkeiten zu gönnen, Raum zum freien Atmen und Phrasieren. Jansons insistiert auf intensiver und extensiver Probenarbeit, aber im Moment der Aufführung muss sie vergessen sein, das musikalische Geschehen spontan erzeugt scheinen.

So ist Jansons zum Liebling der Spitzenorchester geworden: sie lieben und bewundern seine absolute Metiersicherheit, seinen präzisen Schlag, die Bestimmtheit seiner musikalischen Anweisungen, die doch frei von Arroganz, in liebenswürdigem Ton vorgetragen werden – dem humanen Ethos des Dirigenten entsprechend, dem die Erfahrung von Totalitarismus und Diktatur alles despotische Gebaren auch in der Kunst zutiefst verdächtig gemacht hat. Deren humanistischer Aspekt ist ihm auf allen Ebenen des Künstlertums, in der Werkgestaltung wie im zwischenmenschlichen Bereich von zentraler Bedeutung.
Und seinem Umgang mit dem Orchester, der von dem Ideal der gebundenen Freiheit bestimmt ist, entspricht sein Dirigierstil: volle Kontrolle über das musikalische Geschehen zu behalten und sich doch immer wieder vom Temperament mitreißen zu lassen. Im Grunde ist er der Überzeugung, Dirigieren sei Sache der Begabung, eine Gnade, die man nicht erlernen kann. Perfekte Partiturkenntnis und technische Fertigkeit können nicht die spontane ,Übertragungsfähigkeit’ der Bewegungen des Dirigenten ersetzen. Diese Bewegungen darf man sich nicht ,ausdenken’, sie müssen spontan aus der Musik heraus erfolgen. Wem hierfür die Intuition fehlt, bei dem ist alle Mühe vergebens.

Obwohl Jansons von allem Pult-Magiertum nichts wissen will, auf das kapellmeisterliche Handwerk pocht, dessen Geheimnis für ihn darin besteht, eben kein Geheimnis zu haben, ist ihm doch die Übertragung von Energien auf das Orchester das A und O des Dirigierens. Am Pult erscheint er oft als existentiell Getriebener, als „Verrückter“, wie Musiker zärtlich-respektvoll von ihm sagen, wenn es ihn ,überkommt’. Da setzt sich das Freudsche Es gegen das Über-Ich durch, dessen Normengefüge Jansons Leben so sehr diktiert hat. Musik ist ihm – er wird nicht müde, das zu wiederholen – „Sprache unserer Seele“, Ausdruck des „Herzens“. Nicht das Sezieren der Partitur liegt ihm an diesem Herzen, sondern die Emotionalität der Musik – das, was ihm Freunde und Verehrer als „russische Seelenwärme“ zugute halten.

Musik ist für Jansons nicht nur Musik, Noten sind ihm nicht nur Noten. Sein Bestreben ist es, den Sinn hinter den Zeichen der Partitur, den geistigen Gehalt in und hinter den Klängen aufspüren. Die Partitur ist ihm Niederschrift seelischer Prozesse, soll dazu dienen, geistige Zusammenhänge zu kommunizieren. Und so kommt für ihn alles darauf an, dem Orchester ein inneres Bild des aufzuführenden Werks zu vermitteln, seine visionäre Kraft zu entfalten. Bezeichnenderweise zeichneten sich Dirigenten wie Swarowsky und Mrawinskij, denen er so viel verdankt, durch hohe Bildung und Geistigkeit aus. Mrawinskij, so berichtet Jansons, habe stundenlang dasitzen können, um über die Musik nachzudenken und in ihre Tiefe einzudringen. Für Jansons ist Musik nicht nur Sprache des menschlichen Herzens, sondern auch des Herzens der Dinge, sie hat für ihn eine metaphysische Dimension. Religion und Kunst gehören ihm aufs engste zusammen. Jansons ist ein durchaus religiöser Mensch, der unverstellt bekennt, dass er an Gott glaubt.

So breitgefächert sein Repertoire ist, lässt sich doch nicht verkennen, dass sein Kernrepertoire der Spätromantik und beginnenden Moderne gehört. Hier sind vor allem Brahms und Bruckner, Strauss und Mahler seine Favoriten – und natürlich die Russen: Tschaikowsky, Strawinsky, Schostakowitsch, dieser vor allem, sein unbestrittener Lieblingskomponist, den er noch persönlich kennengelernt hat. 2005 hat er die Gesamteinspielung aller Schostakowitsch-Symphonien abgeschlossen, mit verschiedenen Orchestern, vollendet vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Jansons ist der wichtigste Erbe der großen Schostakowitsch-Tradition, die zumal mit den Namen von Mrawinskij und Kondraschin verbunden ist. So sehr er Gefühlsmusiker ist, hat er doch einen ausgeprägten Sinn für die schaurigen Kältezonen, die bizarren Momente bei Schostakowitsch, für die scharfen Akzente, die oft grellen Kontraste, die musikalisch hinter der Fassade der Stalin-Ära das Leben als Groteske erscheinen lassen. Schostakowitschs Symphonien sind für ihn keine ,repräsentativen’ Werke des sowjetischen Systems, sondern insgeheim ,Pièces de resistance’. Und auch bei Mahler ist ihm der Zug zum Grotesken, Bizarren, Schrillen, zur Verfremdung und Verzerrung des Vertrauten wesentlich.

Von seinem Repertoire her ist Jansons eher ein Romantiker als ein Klassiker. Und doch hat er sich in jüngster Zeit mehr und mehr dem Werk der Wiener Klassik zugewandt, besonders Joseph Haydn und Beethoven. Aber es ist bezeichnend, dass er Haydns Klassizität – auf andere Weise, aber doch mit verwandter Intensität wie Leonard Bernstein – im Untergrund brodeln lässt: glühende Klassizität. Und umgekehrt liegt ihm daran, die enthusiastischen oder orgiastischen Momente der romantischen Musiktradition nicht über alle Ufer treten zu lassen, sondern immer in klare Formen zu bannen. Ein Romantiker in klassischer Gestalt, ein Dionysiker in apollinischem Gewand.