
Ernst von Siemens Musikpreis 2025
Sir Simon Rattle
Essay
Was bleibt.
von Alex Ross
Was ist es, was Dirigenten am Ende hinterlassen? Ihre Kunst ist vergänglich. Wie virtuos ihre Technik auch sein mag, wie faszinierend ihre persönliche Aura, letztendlich haben sie ihren Stempel einer akustischen Fata Morgana aufgedrückt, die sich verflüchtigt, sobald der letzte Akkord verklingt. Sie leiteten Tausende von Aufführungen, doch sie allein haben alle davon gehört. Kein objektives Ohr kann das, was sie geleistet haben, in seiner Gesamtheit erfassen und bewerten. Sicher, sie können ganze Bibliotheken mit Aufnahmen bestücken. Doch wenn sich der Geschmack ändert und die Technologie sich weiterentwickelt, haben solche Archive etwas Antiquiertes an sich. Viele berühmte Dirigenten sind mit einem Nimbus von Macht, von Autorität umgeben. Ihre ernsten Gesichter und gebieterischen Gesten sind auf Bildern oder Film festgehalten. Doch auch sie werden zu kuriosen Artefakten und verblassen wie sepiafarbene Bilder von auf öffentlichen Plätzen schwadronierenden Rednern. Die Macht des Dirigenten geht untrennbar einher mit Vergänglichkeit und Immaterialität.
Die nachhaltigsten Eindrücke hinterlassen diejenigen Dirigenten, die zur Erweiterung des Repertoires und zur Förderung eines Ensembles beigetragen haben. Was wurde aufgebaut, gefördert, vorangebracht? Was wurde wiederentdeckt oder neu geschaffen? An diesen Kriterien gemessen dürfte Simon Rattle eine herausragende Rolle spielen, wenn einmal die Geschichte unseres Musikzeitalters geschrieben wird. Sein Repertoire ist gewaltig und umfasst Hunderte von Werken aus allen Epochen. Er hat sich aktiv für die Förderung neuer Musik eingesetzt und es abgelehnt, sich auf ein bestimmtes stilistisches Dogma zu beschränken. Und in einer Zeit, in der Dirigenten von einem Orchester zum anderen jagen und Ämter auf mehreren Kontinenten bekleiden, zeichnet sich Rattle durch seine unbeirrbare und bemerkenswerte Fokussierung aus. Seine Karriere ist eine Geschichte von vier Städten: achtzehn Jahre beim City of Birmingham Symphony Orchestra, sechzehn Jahre bei den Berliner Philharmonikern, sechs Jahre beim London Symphony Orchestra und nun die laufende Amtszeit beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Nur wenige große Karrieren lassen sich so einfach zusammenfassen wie diese.
Mit seiner berühmten Lockenmähne und seinem regen, hellwachen Gesichtsausdruck zählt Rattle zu den Dirigenten mit dem höchsten Wiedererkennungswert. Im Gegensatz zu dem ernsten Habitus der Maestri vergangener Zeiten ist seine Grundstimmung die der erwartungsvollen Freude. Seine lebhafte, abwechslungsreiche und prägnante Gestik scheint wie gemacht, ein Orchester aus seiner Routine aufzurütteln und sie zu einer immer neuen Auseinandersetzung mit jedem noch so kleinen Detail zu animieren.
Abseits des Podiums ist er ein fachkundiger Erklärer und Pädagoge, dessen rhetorische und physische Gesten miteinander im Einklang sind. Als Musikkritiker würde es mir schwerfallen, seine aphoristische Beschreibung des orchestralen Meisterwerks Stele von György Kurtág als „Grabstein, auf dem die gesamte Geschichte der europäischen Musik geschrieben steht“, zu übertreffen. Intellektuelle Leidenschaft ist Rattles Markenzeichen: Er macht Musik, um mehr von der Welt zu erfahren.
Seine lebhafte, abwechslungsreiche und prägnante Gestik scheint wie gemacht, ein Orchester aus seiner Routine aufzurütteln und sie zu einer immer neuen Auseinandersetzung mit jedem noch so kleinen Detail zu animieren.
Rattle wurde 1955 in Liverpool, England, geboren. Schon von klein auf begeisterte er sich für ein breites musikalisches Spektrum. Er spielte Klavier, Geige und Schlagzeug und war Pauker im Merseyside Youth Orchestra. Im Alter von vierzehn Jahren begann er mit dem Dirigieren und gab sein Debüt – eher ungewöhnlich – in Mödling, Österreich, wo er an einer Sommerakademie für junge Musiker*innen teilnahm. Mit neunzehn Jahren erregte er erstmals größere Aufmerksamkeit, als er an der Royal Academy of Music Ravels L’enfant et les sortilèges und Strawinskys Pulcinella dirigierte.
Die Musik des 20. Jahrhunderts stand von Anfang an im Mittelpunkt seines Schaffens. Schon in den ersten Jahren auf der Bühne dirigierte er neben Klassikern der Moderne von Schönberg, Berg, Strawinsky und Bartók auch Ligetis Atmosphères, Messiaens Oiseaux exotiques, Peter Maxwell Davies‘ Erste Sinfonie und HK Grubers Frankenstein!!. Er war ein Fürsprecher für Deryck Cookes Vollendung von Mahlers Zehnter Symphonie und überzeugte viele Skeptiker von den Mahlerschen Qualitäten dieser Partitur.
Ein so unverkennbares Talent weckte das Interesse von Agenturen und Orchestermanagements in aller Welt. Unter anderem bot ihm auch das Los Angeles Philharmonic Orchestra schon früh eine Stelle an. 1980 traf Rattle jedoch die weitreichende Entscheidung, sich in Birmingham niederzulassen, hundertzwanzig Kilometer von dem Ort entfernt, an dem er aufgewachsen war. Das City of Birmingham Symphony war ein hart arbeitendes regionales Orchester ohne nennenswerten internationalen Ruf. Rattle machte es zu einem weltweit gefeierten Ensemble, nicht zuletzt dank Dutzender von Aufnahmen, die er mit dem Label EMI machte. Sein Programm war ehrgeizig und konzentrierte sich auf die Musik des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Repertoire umfasste sämtliche Sinfonien von Mahler, Sibelius und Nielsen, die wichtigsten Werke der Zweiten Wiener Schule, Messiaens Turangalîla und Des canyons aux étoiles, Stockhausens Gruppen, Boulez‘ Rituel, Birtwistles Triumph of Time sowie provokative Uraufführungen von Mark-Anthony Turnage und Thomas Adès. Um sein Engagement für neue Musik noch zu vertiefen, gründete er die Birmingham Contemporary Music Group. Gleichzeitig interessierte er sich aber auch für das Barockrepertoire und für die historisch informierte Aufführungspraxis. Auf seinem Debütprogramm bei den Berliner Philharmonikern im Jahr 1993 stand auch eine Suite aus Rameaus Les Boréades.
Zum ersten Mal sah ich Rattle 1988 in Aktion, als er mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra nach Boston kam. Es war ein für ihn typisches Programm, bestehend aus den letzten drei Sinfonien von Sibelius, das ein klares Statement zum Platz des Komponisten in der Musikgeschichte beinhaltete. Dem damaligen intellektuellen Konsens zufolge war Sibelius ein Reaktionär – von René Leibowitz‘ berühmt-berüchtigter Ansicht, Sibelius sei „le plus mauvais compositeur du monde“, ganz zu schweigen. Wenn ein ganzer Abend der klanglich und strukturell einzigartigen Sprache von Sibelius‘ Spätwerk gewidmet ist und das Orchester als Medium des kontinuierlichen Übergangs und der Auflösung dient, dann lässt sich leicht heraushören, welch galvanische Wirkung der Komponist auf die französischen Komponisten ausübte, die später mit der Schule der „Spektralisten“ in Verbindung gebracht wurden: Hugues Dufourt, Tristan Murail und Gérard Grisey neben anderen. Ebenfalls typisch für Rattle war seine Entscheidung, den Mix-and-Match-Ansatz bei der Programmgestaltung aufzugeben und sich stattdessen auf ein längeres Eintauchen in einen ganz bestimmten Bereich des musikalischen Universums einzulassen. Genau dies geschah auch, als er die Orchesterstücke von Schönberg, Berg und Webern – Op. 16, Op. 6 bzw. Op. 6 – in einer vierzehnsätzigen Supersinfonie miteinander verknüpfte.
Rattles Haare mochten weiß geworden sein, doch sein Gesicht war noch immer das eines jungen Mannes, der die volle Kraft entdeckt, die ein Orchester freisetzen kann – nicht seine eigene Kraft, sondern die Kraft des Kollektivs.
Rattles Entschlossenheit, das Neue mit dem Alten in Einklang zu bringen, zeigte sich ein Jahrzehnt später in seinem Abschiedsprogramm vom City of Birmingham Symphony Orchestra. Es enthielt Adès‘ Asyla, ein dichtes, knappes sinfonisches Werk in vier Sätzen, das sowohl gebrochene Anklänge an Mahlersche Romantik als auch sowie dissonante Eindrücke von Technomusik enthielt. Nach der Pause folgte Mahlers mächtige Zweite Sinfonie, die in einer surrealen chronologischen Umkehrung eine affirmative Gegendarstellung zu Adès‘ kritischer Sicht zu liefern schien. Rattles Haare mochten weiß geworden sein, doch sein Gesicht war noch immer das eines jungen Mannes, der die volle Kraft entdeckt, die ein Orchester freisetzen kann – nicht seine eigene Kraft, sondern die Kraft des Kollektivs. Als er Adès dirigierte, sah er aus, als würde er ein kanonisches Meisterwerk neu interpretieren. Bei Mahler sah er aus, als würde er eine avantgardistische Provokation entfesseln. Als er 2001 in seinem Debütprogramm als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker Asyla mit der Fünften von Mahler kombinierte, beobachtete ich, dass die gleiche zeitliche Nivellierung am Werk war.
Rattles Berliner Amtszeit fasste vieles aus seiner Zeit in Birmingham wieder auf, führte aber auch neue Themen ein. Er arbeitete weiter an einer Demokratisierung der gesellschaftlichen Rolle des Orchesters und nahm Bildungsprojekte in Angriff, die unterprivilegierten Kreisen neue Zugangsmöglichkeiten eröffneten. Bereits in seiner ersten Spielzeit führte er mit zweihundert Schülern The Rite of Spring in der Treptower Arena auf – ein Projekt, das in dem Film Rhythm Is It! dokumentiert ist. (Ich habe mir eine Version davon in New York angesehen.) In den folgenden Spielzeiten förderte er mit beispiellosem Nachdruck zeitgenössische Musik, verhalf französischer, britischer und amerikanischer Musik zu neuer Bedeutung und leitete auch außerhalb der Philharmonie allerlei Veranstaltungen, die zeigten, wie viel ein Orchester jenseits der herkömmlichen institutionellen Grenzen erreichen kann.
Ich reiste 2008 nach Berlin, um mir eines davon anzusehen. Es war eine Präsentation von Gruppen zusammen mit Messiaens Et exspecto resurrectionem mortuorum im Hangar 2 auf dem inzwischen stillgelegten Flughafen Tempelhof, einem Ort, an dem die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts dunkel widerhallte: Rituale der Nazizeit, die Luftbrücke im Kalten Krieg. Rattle geizte nicht mit den monumentalen Aspekten der Partituren, brachte jedoch in der ihm eigenen, unkonventionellen Art auch intimere, ausdrucksvollere Aspekte von Gruppen zum Vorschein: das an Vogelstimmen erinnernde Gezwitscher der Bläser im oberen Register, den semi-romantischen Klang einer Solovioline gegen das Ensemble, die beinahe gebetsartig ansteigende große Terz, mit der das Stück endet. Wir hörten auch eine Jazzenergie im Wah-wah der Blechbläser, in den quietschenden Klarinetten, den hämmernden Tomtoms und Holztrommeln in der Perkussion. Das Ereignis bereitete eine unvermutete Freude. Stockhausens essenzielle, wenn auch exzentrische Menschlichkeit wurde offenbar.
2014 besetzten Rattle und seine Berliner Truppen die ähnlich riesige Park Avenue Armory in New York, um dort die Matthäus-Passion in einer theatralen Fassung von Peter Sellars aufzuführen. Zuvor war die Produktion in der Berliner Philharmonie und bei den Salzburger Festspielen zu sehen, inmitten vereinzelter Proteste gegen den opernhaften Umgang mit Bach. (Kritiker neigten dazu, die Tatsache zu ignorieren, dass jede moderne Konzertaufführung solcher Werke den liturgischen Kontext verlassen, den Bach erwartet hätte. Sellars ließ sich dafür dramatische Rollen einfallen, und zwar nicht nur für die Sänger, sondern für alle Chormitglieder und für einige im Orchester. Unvergesslich war der Anblick von Daniel Stabrawa, damals leitender Konzertmeister der Philharmoniker, wie er sich an einen weißen Block lehnt, mit lässiger Körpersprache, als würde er in einem leeren Raum spielen. Die große tschechische Mezzosopranistin Magdalena Kožená, die Rattle 2008 heiratete, streckte zusammengekauert ihre Hand nach Stabrawa aus, bis sie schließlich seinen Schuh berührte. Er nahm keine Notiz von ihr, und so blieb sie schluchzend auf dem Boden liegend zurück. Solche eindringlichen Details erfüllen nicht nur eine dramaturgische Funktion. Sie sollen auch die Aufmerksamkeit des Publikums von den Gesten des Dirigenten weg- und hin zu den Musikern lenken, die den Klang tatsächlich erzeugen.
Nachdem Rattle 2018 Berlin verlassen hatte, übernahm er die Leitung des London Symphony Orchestra, mit dem er seit langem verbunden war. Seine Amtszeit dort hätte von viel längerer Dauer sein können, wären nicht die kulturellen und politischen Umstände im Vereinigten Königreich dazwischen gekommen. Pläne für einen neuen Konzertsaal wurden auf Eis gelegt, das Budget wurde gekürzt, doch vor allem wurde die europäische Ausrichtung des Orchesters durch den Brexit eingeschränkt. 2021 kündigte Rattle nicht nur den Wechsel zu seiner gegenwärtigen Stelle beim BRSO an, sondern auch, dass er die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen werde. Der Begriff der Heimat – nicht nur im persönlichen, sondern auch im kulturellen und kommunalen Sinn – war für Rattle schon immer von größter Bedeutung. Diese Heimat war nun Deutschland.
Auch wenn Rattles Beziehung zum BRSO noch in den Kinderschuhen steckt, lassen sich schon vertraute Konturen und gleichzeitig auch neue Tendenzen erkennen. Die deutsche und zentraleuropäische zeitgenössische Musik wird neu gewichtet, mit Aufführungen von Lachenmann, Georg Friedrich Haas und Ondřej Adámek. Wagner, ein Komponist, der in Rattles Karriere anfangs kaum Beachtung fand, ist nun Gegenstand intensiver Beschäftigung. Ein kompletter Ring-Zyklus nähert sich in München seinem Abschluss und besticht vor allem durch das außerordentlich hohe Niveau des Orchesterspiels. Und Live-Aufnahmen von Mahlers Sechster, Siebter und Neunter Sinfonie gehören zu den eindrucksvollsten Ergebnissen von Rattles lebenslanger Auseinandersetzung mit diesem Komponisten.
Nicht zuletzt ist Rattle für seine freimütige Eloquenz bekannt, mit der er über sein Handwerk spricht, und so sollte er das letzte Wort haben: In einem Interview mit The New Yorker sagte er 1988: „Fast alle großen Orchester der Vergangenheit wurden von Dirigenten aufgebaut, die viele Jahre lang unermüdlich mit ihnen gearbeitet haben, und mich reizt diese Tradition. Etwas bleibt erhalten, auch wenn der Dirigent gegangen ist. Ich meine, Fritz Reiner ist in Chicago noch immer anwesend, Stokowski blieb noch lange Zeit in Philadelphia, Szells Geist ist jedes Mal quicklebendig, wenn das Cleveland Mozart spielt, und Klemperer dirigiert noch immer Beethoven an der Londoner Philharmonie, auch wenn es heute fast niemanden mehr im Orchester gibt, der irgendwann einmal mit ihm gespielt hätte. Ein Dirigent kann einen außerordentlichen Einfluss auf die Musik haben, wenn er lange genug an einem Ort bleibt, und genau das möchte ich tun.“ Er hat es getan, und zwar ein ums andere Mal.