Ernst von Siemens Musikpreis 2020
Tabea Zimmermann
Gespräch März 2020
Anfang März, kurz vor dem landesweiten Lockdown wegen der Corona-Pandemie, trafen sich der Journalist und Musikwissenschaftler Eckhard Roelcke und die Preisträgerin Tabea Zimmermann in Essen. Sie wollten unter anderem über das von ihr ausgewählte Programm für die für den 11. Mai 2020 geplante Ernst von Siemens Musikpreis-Verleihung sprechen. Zum Zeitpunkt des Gesprächs konnte man die Auswirkungen der Pandemie auf das öffentliche und Leben noch kaum erahnen, die die Verschiebung der Preisverleihung bis weit ins Jahr 2021 hinein erforderlich machte:
Eckhard Roelcke: Warum haben Sie für die Preisverleihung Werke von Benjamin Britten, Luciano Berio und György Kurtág ausgewählt?
Tabea Zimmermann: Ich finde die Auswahl für diesen Anlass besonders passend, weil Britten, Berio und Kurtág frühere Preisträger waren. In Kurtágs Sammlung Signs, Games and Messages gibt es wunderschöne Solo-Stücke für die Bratsche, darunter auch … eine Blume für Tabea …. Das Werk hat er nach dem Tod meines Mannes David Shallon für mich geschrieben. Im Andenken an ihn möchte ich mit dem Preisgeld eine Stiftung gründen.
Mit dem Ensemble Resonanz arbeite ich seit vielen Jahren wunderbar zusammen. Sie sollen bei der Preisverleihung dabei sein, deshalb spielen wir gemeinsam Brittens Lachrymae. Es ist ein filigranes, zerbrechliches Stück, in dem die Bratsche keine solistische Gesangsrolle hat. Ich bette mich gerne in den Klang des Ensembles ein.
Und Berios Naturale ist ein Lieblingsstück von mir. Ich kann es wegen der ungewöhnlichen Besetzung mit Bratsche, Schlagzeug und Tonband nur selten im Konzert spielen. Man muss sich das Stück für einen besonderen Anlass aufbewahren. Die geplante Preisverleihung im Prinzregententheater schien mir der richtige Anlass und Ort.
Fangen wir mit dem ältesten Stück an, das Sie bei der Preisverleihung spielen: Brittens Lachrymae, 1950 komponiert. Sein Ausgangspunkt ist das Renaissance-Lied Lachrymae von John Dowland. Wie geht er mit dieser Vorlage um?
Zunächst hat er die Variationen komponiert, und erst am Ende taucht das Lied auf, dann erst wird das musikalische Bild komplett. Britten legt für den Hörer also Spuren aus, und ich muss beim Spielen den Hörern beim Spurenlesen helfen: Dies und das müsst ihr euch merken, weil es nachher nochmal kommt! Allmählich laufen die Fäden zusammen und münden in diesem schönen, alten Lied.
Das Stück läuft also quasi rückwärts: erst die Variationen, dann das Thema. Welche interpretatorischen Folgen hat das?
Britten hat die Lieder von Dowland durch seinen Partner, den Sänger Peter Pears kennengelernt. Er hat die Songs sehr romantisch gesungen. Daraus ergibt sich für mich ein Problem, weil ich die Musik von Dowland nicht romantisch empfinde, sondern an Renaissance-Musik mit ihrem reinen Klang denke. Also muss ich einen Weg finden, diese verschiedenen Klangvorstellungen in meine Interpretation einzuarbeiten. Ich tue dies eher nacheinander als gleichzeitig, färbe jede Variation etwas anders.
Wie passt Luciano Berios Naturale in Ihr Programm? Er verbindet die Kunstmusik mit der Volksmusik.
Berio sucht wie Britten und auch Kurtág nach den ursprünglichsten Elementen der Musik. Er dekonstruiert sie und baut sie nach eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten neu zusammen. In Berios Naturale ist das episodenhafte, erzählerische Moment wunderbar, weil er aus dem vergleichsweise einfachen Material komplexe Strukturen ableitet. Aus diesem dauernden Wechsel entsteht die Spannung der Musik. Die Stimme vom Band kommt nicht von einem Kunstsänger, sondern von einem Straßenverkäufer, der seine Ware auf dem Fischmarkt oder wo auch immer anbietet.
Ein Marktschreier.
Es ist faszinierend, wie mit dieser Stimme eine dritte Person auf der Bühne erscheint. Berio hat dieses einfache Klangmaterial auf einer Straße mit einem Kassettenrekorder aufgenommen und es überhaupt nicht bereinigt. Die klangmalerische Seite dieser Musik ist sehr schön, und als Solistin habe ich viel Freiheit zum Fantasieren. Das Schlagzeug hat er allerdings deutlich als Begleitung komponiert.
Klingt da Kritik an Berios Komposition durch?
Nein, ich kritisiere das Stück nicht. Es funktioniert wunderbar! Ich bin Berio sehr dankbar für diese großangelegte Bratschenstimme. Manchmal wünsche ich mir noch etwas mehr Interaktion mit der Schlagzeugstimme.
Die Gesangslinie des sizilianischen Sängers ist mikrotonal gefärbt. Das ist kein temperierter Gesang.
Als Streicherin finde ich das Thema Intonation faszinierend. Ich sehe die temperierte Stimmung als notwendigen Kompromiss beim Musizieren mit Klavier, aber oft auch als Verlust. Mikrotonale Feinheiten bewusst eingesetzt, bereichern unsere Hör-Erfahrung. Ich lasse mich bei Naturale gerne vom Sänger inspirieren und antworte in einigen Episoden des Stückes auf die Färbungen der Stimme.
Intonation als bewusst eingesetztes Mittel der Interpretation ist für mich auch beim Unterrichten ein großes Thema. Schon mein erster Lehrer hat mir beigebracht, den Ton bewusst dorthin zu setzen, wo er harmonisch, melodisch oder vom Ausdruck hingehört. Also nicht dieses Spiel nach Punkten auf dem Griffbrett oder so etwas. Das ist die Schwierigkeit, aber auch der Vorteil beim Spielen eines Streichinstruments: Jeder muss den Ton selbst platzieren.
Das bedeutet: Voraus-Hören.
Das ist das Wichtigste, sonst kann ich den Ton nicht treffen. Die Idee muss den Finger führen! Ein Spielen nach Positionen finde ich auf einem Streichinstrument grundfalsch.
Sie haben früh angefangen, auch Klavier zu spielen. War das eine ideale Ergänzung?
Wenn ich in meiner wenigen Freizeit Musik mache, spiele ich Klavier. Es mag überraschend klingen, aber für mich ist die Bratsche nicht das ideale Instrument, es ist nur das Instrument, auf dem ich mich am klarsten ausdrücken kann. Es macht mir allerdings auch viel Freude, die Bratsche in den Mittelpunkt zu stellen und ihre Vorzüge zu beleuchten.
Wie haben Sie die Musik von György Kurtág kennengelernt?
Ich bin Kurtág vor ungefähr vierzig Jahren beim Festival in Lockenhaus das erste Mal begegnet. Gidon Kremer hatte ihn als Lehrer für Kammermusik eingeladen und auch seine Musik in den Fokus gestellt. Ich erinnere mich an intensive Mozart-Quintettproben unter Kurtags Anleitung aber auch an starke Höreindrücke, z.B. bei seinen Kafka-Fragmenten. (mitgebracht. Wir haben zum Beispiel ein Streichquintett von Mozart gespielt, und Kremer wollte unbedingt, dass Kurtág bei allen Proben dabei ist. Er hat fünf Proben angesetzt, was bei einem Festival ungewöhnlich viel ist. Es war eine tolle Begegnung!) Bei verschiedenen Festivals bin ich ihm wieder begegnet, und es war jedes Mal genauso anstrengend wie bereichernd.
Warum anstrengend?
Kurtág fordert eine unbedingte Hingabe an die allerkleinsten Details und eine sehr hohe innere Spannung. Bei einer Begegnung mit ihm fühlt man sich nach einer Stunde so, als hätte man acht Stunden physisch anstrengender Arbeit hinter sich. Erst im Rückblick versteht man, dass es eine Anstrengung war, die zu großen Erkenntnissen geführt hat und man eigentlich beschenkt wurde. Gelegentlich hatte ich bei Kurtág den Eindruck, dass er auch ein stückweit darunter leidet, dass seine Notation nicht allgemeinverständlicher ist. Manches kann man nur verstehen, wenn man ihn kennt und weiß, wie er Musik hört und versteht. Manche Werke bindet er an Spieler und sagt, dass nur sie seine Stücke spielen dürfen, weil er sie mit ihnen gearbeitet hat. Darin sehe ich ein gewisses Problem. Ich wünsche mir manchmal, dass ein Komponist sein Werk loslassen könnte. Als Interpretin muss mein größtes Ziel allerdings bleiben, den Intentionen der Komponisten immer noch näher zu kommen.
Kurtág scheint mir für diesen Gedanken ein gutes Beispiel zu sein.
Der Interpret soll bei ihm völlig frei spielen. Aber wenn diese Freiheit durch das gemeinsame Proben beschränkt wird, ist es schwierig. Ich fand es immer von Vorteil, Kurtág vorzuspielen, wenn es nicht unmittelbar vor einem Konzert war. Es war gut, die Ideen dann mit nach Hause zu nehmen und dort Zeit zu haben, die Eindrücke zu verarbeiten. Wenn allerdings übermorgen das Konzert ist, und der Komponist sagt heute bei den Proben, was alles nicht geht, kann das sehr schwierig werden! Man fühlt sich mitunter geschwächt und möchte nicht mehr auf die Bühne gehen.
Man bekommt als Musiker mitunter wenig Lob?
Damit sollte man rechnen, wenn man sich einer solchen Begegnung aussetzt. Ich habe verschiedene Musikertypen getroffen. Der eine kann gut damit umgehen, der andere nicht. Es gibt Kollegen, die eine Probe mit Kurtág wütend verlassen und gesagt haben: „Das halte ich nicht aus!“
Andererseits ist eine Begegnung mit ihm eine unglaubliche Bereicherung. Seine Stimme, seine Phantasie! Er schreibt Musik mit so viel Freiheit für den Interpreten. Gerade in seinen Solostücken ist das wunderbar.
Die Zusammenarbeit mit Komponisten ist also wichtig?
Die Begegnung mit den Komponisten kann ungemein inspirierend sein und hilft mir oft, den Menschen hinter der Komposition besser zu verstehen. Wie gerne hätte ich Mozart, Beethoven, Brahms aber auch Hindemith kennengelernt!
Man muss sich aber auch mal in die Lage eines Komponisten versetzen, um zu verstehen, wie schwierig seine Situation ist. Er hat zum Beispiel ein Jahr lang an einem großen Werk gearbeitet und kommt zur ersten Probe – und natürlich klingt das erste Ergebnis für ihn furchtbar. Dann positiv auf die Musiker einzuwirken, ihnen zu helfen, den richtigen Ton und die richtige Einstellung zu finden und ihnen auch noch Mut zu machen, weiter zu suchen: Das ist gar nicht so ohne! Ein bisschen Psychologie ist in solchen Situationen hilfreich.
Sie haben gesagt, die Bratsche sei das Instrument, das Sie zufällig gelernt haben. Fühlen Sie sich in erster Linie als Musikerin und nicht als Bratschistin?
Ich hoffe sehr, dass ich mehr Musikerin als Bratschistin bin. Das Instrument, das man wählt, ist wirklich nur ein „Instrument“. Es ist ja nicht die Musik. Was wäre ich heute ohne die Bratsche? Die Frage kann ich nicht beantworten. Die Bratsche ist meine Begleiterin durchs Leben, aber sie ist nicht der Lebensinhalt. Die Musik zum Klingen zu bringen, damit zu kommunizieren, Inhalte zu transportieren – das mache ich eben zufällig mit der Bratsche. Ich kann halt nichts anderes.
Schon mit 21 Jahren sind sie Professorin geworden. Wie kam es dazu?
Das hat eine längere Vorgeschichte. Als Kind hatte ich den bestmöglichen Unterricht. Mein Lehrer Dietmar Mantel hat mir viele Impulse mitgegeben, von denen ich heute noch als Lehrerin zehre. Und die Musikschule in Lahr: ein Glücksfall! Dann kam ich zu Ulrich Koch nach Freiburg an die Musikhochschule. Bei ihm habe ich das große Repertoire einstudiert. Er hat mich getriezt und wollte mich auf viele Wettbewerbe schicken. Die haben meine Karriere am Anfang tatsächlich auch angestoßen. Aber es ist nicht mein Naturell, noch einen Preis, noch einen Wettbewerb zu gewinnen. Als Herr Koch mich innerhalb eines Jahres nach Wettbewerben in Genf und Paris auch noch zum ARD-Wettbewerb nach München schicken wollte, habe ich mich verweigert. Das war wahrscheinlich auch eine pubertäre Abgrenzung. Zuhause konnte ich nicht gegen meine Eltern rebellieren, also habe ich gegen den Lehrer rebelliert. Ich bin nicht nach München gefahren! Daraus ist ein richtiger Streit entstanden. Ich wollte unabhängiger sein und selbst entscheiden, er wollte, dass ich nach seiner Pfeife tanze und ihm die Lorbeeren der Preise nach Hause bringe. Er hat mir gesagt: „Wenn man so ein Pferd im Stall hat, dann muss es laufen.“ Ich habe geantwortet: „Danke, ich bin kein Pferd.“ Dann habe ich ihm auch noch gesagt, ich wolle von ihm weggehen und bei Sándor Vegh studieren. Das wollte er auf keinen Fall. Er hat Vegh als Scharlatan abgetan und mir auch noch alle anderen Lehrer schlecht gemacht, zu denen ich wechseln wollte. „Was soll ich denn machen“, habe ich ihn gefragt. Seine Antwort: „Bleib doch hier!“ Das war wirklich sehr lustig. Am Ende des Gespräches sagte er: „Ich habe über dein Leben nachgedacht und denke, du solltest auf jeden Fall unterrichten.“ Koch wollte, dass ich nach seiner Pensionierung seine Nachfolge in Freiburg antrete und zunächst etwas Lehrerfahrung sammle. Deshalb hat er mir erst zunächst einen Lehrauftrag in Saarbrücken empfohlen, und so habe ich mit 19 Jahren also schon erste Erfahrungen als Lehrerin gesammelt. Als ich 21 war, wurde dort eine Professur für Viola ausgeschrieben, um die ich mich bewarb. Nach einigen Jahren in Saarbrücken habe ich die Unterrichtstätigkeit zunächst unterbrochen. Als ich mich etwas reifer für die Anforderungen einer Lehrstelle fühlte, habe ich einige Jahre in Frankfurt unterrichtet, und seit 2002 bin ich nun an der Musikhochschule Hanns Eisler in Berlin. In die badische Heimat hat mich das Leben nicht mehr zurückgeführt.
Das Unterrichten bedeutet Ihnen offensichtlich viel.
Sehr viel! Ich könnte wohl eher auf das Reisen und gelegentlich auf ein oder zwei Konzerte verzichten, aber das Unterrichten möchte ich nicht missen. Es erdet mich als Künstlerin und hält mich in Kontakt mit jungen Musikern und ihren Fragen. Das Begründen einer Interpretation habe ich hauptsächlich durch die Lehre gelernt. Ich möchte nicht einfach aus dem Bauch spielen, sondern eine Verbindung zwischen dem schaffen, was ich fühle, und dem, was ich weiß. Daraus entsteht eine Interpretation, die hoffentlich schlüssig, aber nicht in Stein gemeißelt ist.
„Wer Musikschulen schließt, gefährdet die innere Sicherheit.“ Das hat der damalige Innenminister Otto Schily gesagt …
… Sehr gut! Das unterschreibe ich sofort.
Er hat damit die gesellschaftspolitische Bedeutung von Musikunterricht betont. Würden Sie das politisch auch so hoch hängen?
Ja, es kann gar nicht hoch genug gehängt werden! Ich beobachte mit Sorge, dass wir einer flächendeckenden, musikalischen Grundausbildung keine allzu große Bedeutung mehr beimessen. Die Auswirkungen sehe ich nicht zuletzt bei der Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule. Auf fünfzig internationale Bewerber kommen nur circa ein oder zwei aus deutschen Musikschulen. Wer heute ein Musikinstrument lernen möchte, muss betuchte Eltern haben, um einen guten Lehrer privat bezahlen zu können. Es gibt nicht mehr das breite Netz der gut ausgestatteten Musikschulen wie noch in den Siebzigern. Das wurde einfach tot gespart. Ich bedaure dies zutiefst.
Mit welchen Auswirkungen?
Eine musikalische Ausbildung gibt Kindern etwas fürs Leben mit, was sie widerstandsfähig und selbstbewusst machen kann. Musik sollte unbedingt zur umfassenden Ausbildung gehören.
Sie haben kürzlich gesagt: „Wir Musiker müssen politischer werden und dürfen nicht mehr in unsere Nische bleiben.“ Die Ernst von Siemens Musikpreis-Verleihung ist eine gute Plattform!
Ich frage mich oft, wann wir Musiker politisch sein können, dürfen und müssen! Es ist schwierig, den richtigen Moment zu finden. Manchmal ist es gut, sich aufs Musizieren zurückzuziehen und nicht dauernd politische Statements abgeben zu müssen. Manchmal sind wir aber auch einfach zu bequem nach dem Motto: Ist mir doch egal, woher das Geld kommt. Zur Zeit gibt es ungute Verstrickungen in der Klassik-Szene, besonders mit nicht so feinen Geldgebern im Hintergrund.
Das klingt nach einem Appell an Kolleginnen und Kollegen, mehr über den Musikmarkt nachzudenken und kritischer zu sein.
Es ist eher ein Appell an die eigenen Entscheidungen, nicht immer nur den eigenen Vorteil zu sehen. Man kann doch einfach auch mal sagen: Zu dieser Einladung fahre ich nicht hin. Außerdem sollte man hinterfragen, wer mit welchen Interessen hinter einem Engagement steckt. Inzwischen wird die Musik oft instrumentalisiert, um im Hintergrund große politische Ansprüche abzusichern. Leider geht es nicht immer um Musik, wenn Musik drauf steht.
Haben Sie ein Beispiel?
Ich meine Festivals wie Verbier, inzwischen auch Luzern und Salzburg. Wohin man schaut, hängen russische Oligarchen drin. Das finde ich schrecklich. Die gesellschaftspolitische Verantwortung von Künstlern wird heute relativ schnell stillgelegt. Man ködert junge Musiker und verspricht ihnen ein schönes Engagement. Man lädt sie zum Beispiel auf die MS Europa ein mit dem Versprechen: Wir nehmen dich mit in unsere Luxuswelt. Sei aber bitte still und sorge ein bisschen für schöne Abwechslung!
Für Sie ist Musik also keine kulinarische, sondern eine existenzielle Erfahrungen?
Auf jeden Fall! Ich möchte nicht zur Unterhaltung auf einem Kreuzfahrtschiff spielen, selbst wenn ich eine schöne Reise machen könnte. Das geht mir gegen den Strich. Dort sind nur Menschen, die sich das leisten können, das ist eine extrem elitäre Angelegenheit. Wenn bei Festivals Karten für Hunderte von Euros verkauft werden und es keine oder wenige günstige Karten gibt, finde ich das auch schwierig. Dann möchte ich lieber eine kleinere Gage haben und wissen, dass mehr Leute kommen können. Ob sie kommen, weiß ich natürlich nicht. Das hängt vom Programm ab. Ich habe kein Problem, in einem schönen Kammermusiksaal mit nur 200 Plätzen zu spielen. Das Konzert ist dann nicht elitär durch den Kartenpreis, sondern durch den Anspruch.
Zurück zu Ihrer Arbeit mit jungen Musikern. Sie erarbeiten im kommenden Jahr mit dem Bundesjugendorchester „Harold en Italie“ von Hector Berlioz. Aus welchem Impuls heraus?
Ich habe so gute Erinnerungen an dieses Orchester! Ich leite ja öfters von der Bratsche aus Ensembles, weiter als bis zu Sinfonien von Beethoven und Schubert bin ich bisher dabei nicht gegangen. Ein so großes Werk wie „Harold en Italie“ habe ich noch nicht gemacht. Mich reizt die rhythmische, kantige Schreibweise von Berlioz. Voraussetzung für dieses Projekt sind genügend Proben. Wir müssen es schaffen, die schwersten Passagen aus dem letzten Satz quasi auswendig zu spielen, damit wir nach Gehör reagieren können. Auch bei vielen großen Orchestern läuft das manchmal auseinander. Ich würde das Stück gerne im Detail vom Hören und vom inneren Rhythmus der Musik zusammenbauen. Ich möchte mal richtig tief graben!
Und Sie nehmen sich die Zeit dafür.
Die nehme ich mir, weil ich einmal erleben möchte, wie viel möglich ist, wenn man so viel Zeit investiert.
Sie bauen damit auch auf Erfahrungen auf, die Sie mit dem Ensemble Resonanz gemacht haben.
Das Ensemble Resonanz war das erste Ensemble, das mir zugetraut hat, über einen Zeitraum von zwei Jahren etliche Programme ganz ohne Dirigenten von der Bratsche aus einzustudieren und zu leiten. Dafür bin ich richtig dankbar. Damals habe ich gedacht: „Was wollt ihr denn von mir? Das kann ich gar nicht.“ Aber der Nachdruck der Musiker hat mir Mut gemacht. Es war ein ganz anderes Arbeiten. Die zwei Jahre Arbeit mit dem Ensemble Resonanz als Artist in Residence werde ich nicht vergessen.
Das ist überhaupt mein Traum: als Kollektiv die hierarchischen Strukturen in der Musik noch ein bisschen abfeilen.