Ernst von Siemens Musikpreis 2020
Tabea Zimmermann
Gespräch April 2020
Tabea Zimmermann im Gespräch mit Eckhard Roelcke, Journalist und Musikwissenschaftler
April 2020
Jetzt habe ich Zeit zum Lesen und Klavier-spielen. Außerdem habe ich mir einen großen Stapel teilweise fünfzehn Jahre alter Unterlagen vorgeknöpft und finde es spannend, über manches noch einmal nachzudenken.
Eckhard Roelcke: Wir führen dieses Gespräch am 21. April 2020. Durch die Corona-Krise ist das Leben massiv eingeschränkt. In wenigen Tagen wird es wohl erste Lockerungen geben, die Lage kann sich ständig ändern. Als wir uns am 7. März zu einem ersten Gespräch in Essen trafen, hatte das Virus Deutschland zwar schon erreicht, es gab aber noch keine umfassenden Beschränkungen. Wir haben damals über Ihr Konzert bei der Ernst von Siemens Musikpreis-Verleihung am 11. Mai gesprochen. Inzwischen wurde die Preisverleihung im Münchner Prinzregentheater auf unbe-stimmte Zeit verschoben. Sie wollten damals von Essen weiter zu zwei Konzerten nach Großbritannien reisen und von dort zu einer ausgedehnten Tournee in die USA und nach Kanada aufbrechen. Was ist aus den Reisen geworden?
Tabea Zimmermann: Nach Liverpool und London sind Daniel Sepec, Jean-Guihen Queyras und ich noch gefahren. Zwei Jahre lang hatten wir als Trio sämtliche Streichtrios von Beethoven vorbereitet. Es wäre sehr traurig gewesen, wenn wir diesen Zielpunkt nicht erreicht hätten. Als meine anschließende Reise abgesagt wurde, war ich ein bisschen enttäuscht. Es wäre eine besondere Gelegenheit gewesen, mit einem Sonatenabend-Programm eine Tournee in den USA zu machen. Andererseits fand ich die Idee nicht besonders attraktiv, loszufliegen und dann steckenzubleiben.
Seither hat sich sehr viel verändert. Ich fühle eine positive Ruhe. Der Zeitdruck ist weg, und ich habe viele Möglichkeiten zu reflektieren. Sehr schlimm ist die Lage für den Kulturbetrieb, in dem alle Aktivitäten für wahrscheinlich lange Zeit auf null runtergefahren worden sind. Für viele freischaffende Künstler ist die Situation materiell äußerst beunruhigend. Gerade jüngeren Musikern ist auch noch die Motivation weggebrochen. Ohne gut geplante nächste Saison fragen sich manche: Warum übe ich überhaupt noch? Das stelle ich mir sehr schwer vor. Auch für mich als Lehrerin ist es schwer, mit ihnen gut ins Gespräch zu kommen. Auch dafür müsste man sich in einem Raum befinden ähnlich wie bei der Kammermusik. So sensible Dinge kann man nicht ohne weiteres am Telefon oder per Videoschaltung besprechen.
Positive Ruhe bedeutet auch „sich Zeit nehmen“. Heißt das auch: sich Freiheit nehmen?
Hätte ich die Wahl gehabt, würde ich jetzt nicht in meinem Zimmer eingesperrt sitzen. Aber es ist eben meine Art, aus allen Situationen das Bestmögliche zu machen. Unser Musikbetrieb ist sowieso zu schnell getaktet, Erholungsphasen sind wahrscheinlich unter normalen Umständen zu kurz geplant. Jetzt habe ich Zeit zum Lesen und Klavierspielen. Außerdem habe ich mir einen großen Stapel teilweise fünfzehn Jahre alter Unterlagen vorgeknöpft und finde es spannend, über manches noch einmal nachzudenken.
Wie haben Sie die ruhige Stadt Berlin erlebt?
Es ist wirklich sehr ruhig und man hört mehr Vögel zwitschern. Die Ruhe hat auch etwas Gespenstisches. Zwei, drei Tage lang ist ein Feiertagsgefühl schön, doch inzwischen spüre ich eine Lähmung. Nicht bei mir, aber draußen. Ich bin es gewohnt, alleine zu arbeiten und kann jetzt wie Schriftsteller oder Komponisten in anderer Weise weiterarbeiten. Wenn man als Nicht-Künstler mit seiner „normalen Arbeit“ einfach auf null gesetzt wird, ist das schwer.
In einem Gespräch mit der Geigerin Barbara Bultmann vom Ensemble Resonanz haben Sie gesagt, Musik sei „ein Schlüssel zu einer inneren Welt“. Ist diese innere Welt abgeschottet von der äußeren Welt, also dem Rest der Welt?
Ich hoffe nicht, dass sie getrennt ist. Man kann allerdings nicht gleichzeitig nach außen und nach innen schauen. Für mich ist die Musik immer die Kraftquelle gewesen, eine Verbindung von innen nach außen zu schaffen.
Die Ruhe, die Stille, eine Pause, das Ausklingen eines Tones: Erleben Sie Musik in diesen Tagen anders?
Das kommt auf die Werke an. Manche Stücke können von dieser allgemeinen Stille geradezu unheimlich profitieren. Virtuose Musik dagegen scheint mir im Moment völlig überflüssig! Man kann jetzt nicht im Zirkus auftreten, um einen Salto zu präsentieren.
Und erleben wir Hörer die Musik anders?
Da mir im Moment der Austausch mit meinen Hörern fehlt, kann ich die Frage nicht beantworten. Wir alle haben Hunger nach Klangerlebnissen! Ich habe beobachtet, wie sich manche Leute im Internet präsentieren und mit einer gewissen Geschäftigkeit Ersatz für das Musikerlebnis suchen. Eine Variante stößt mir dabei allerdings auf, wenn nämlich Musikstücke aus einzelnen Tonspuren zusammengeschnitten werden. Für mich ist es keine Kammermusik, wenn man ein Beethoven-Quartett mit vier Leuten an vier Orten präsentiert. Es ist das Gegenteil von Kammermusik, bei der die feinste Abstimmung im Moment wesentlich ist: Einer macht eine kleine Wendung in eine Richtung, und die anderen gehen mit. Das fällt bei zusammengeschnittenen Tonspuren weg. Einen Bolero von Ravel kann man so vielleicht präsentieren. Nach seinem Rhythmus können sich alle richten wie nach einem Click Track in der Unterhaltungsmusik. Aber mit einem Beethoven kann man das nicht machen.
Wir wissen wahrscheinlich alle noch, was wir am 11. September 2001 gemacht haben, als in New York Terroristen mit zwei Flugzeugen in die Türme des World Trade Center flogen. Schreckliche Bilder, die sich tief eingeprägt haben. Die Corona-Krise hat keinen fixes Datum, aber sehr wohl eine konkrete Zeitspanne: Frühjahr 2020. Werden Sie diese Zeit mit einem musikalischen Erleben koppeln? Mit Werken, die Sie in diesen Tagen besonders beschäftigen?
Ich habe zunächst den Wunsch, mir meine manuellen und spielerischen Fähigkeiten zu erhalten. Den Drang, neue Werke auf der Bratsche zu erarbeiten, die ich demnächst auch spielen möchte, habe ich noch nicht. Ich werde mich also an diese geschenkte Zeit zu Hause erinnern und meine Beschäftigung mit außermusikalischen Dingen. Es tut mal wieder gut, ein richtig dickes Buch zur Seite zu nehmen.
Wir haben im März darüber gesprochen, wie wichtig Ihnen die Arbeit mit Ihren Studierenden ist. Wie haben Sie diese Arbeit jetzt organisiert?
Ich produziere kleine Videos, die ich meinen fünfzehn Studenten schicke. Ich übe darin quasi in Zeitlupe und erkläre, was ich bedenke. Das kann ein technischer oder ein musikalischer Aspekt sein. Es ist eine Chance, andere Arbeitsmethoden auszuprobieren. Im normalen Hochschulablauf sagt der Student, was er gerade spielt. Ich gehe dann an meinen Notenschrank, hole die Partitur, und wir gehen in die Diskussion. Jetzt ist der Weg anders. Ich schicke an alle Studenten Materialien zum Lesen, alle üben eine Woche etwas Ähnliches. Außerdem kann jeder seine individuellen Aufgaben auf Video an mich schicken.
So wie wir uns vor sechs Wochen in Essen nicht vorstellen konnten, wie unser Alltag heute aussieht, können wir heute auch nur darüber spekulieren, wie es in sechs Wochen, Ende Mai aussehen wird. Und dann im Sommer, im Herbst. Wie können Sie überhaupt planen?
Die Planung für die nächste Saison war komplett abgeschlossen mit einem Tourneekalender bis Sommer 2021. Momentan kann ich nur abwarten. Es stehen auch große Auslandsreisen an, von denen ich nicht weiß, ob sie stattfinden. Ich wollte zum Beispiel im Sommer für sechs Wochen nach Australien reisen und an der ANAM, der „Australian National Academy of Music“ mit Studenten arbeiten. Das Projekt wird wahrscheinlich schon aus dem Grund nicht stattfinden, weil es keine internationalen Flüge gibt und jeder, der nach Australien reist, für vierzehn Tage in Quarantäne muss.
Ich weiß wirklich nicht, was wird. Was mir am allermeisten fehlt, ist das Musizieren mit anderen! Vom Naturell her bin ich keine Solistin. Ich kann zwar gut alleine zu Hause arbeiten, aber ich möchte nicht auf Dauer immer nur alleine Bratsche spielen. Das finde ich ziemlich traurig.
Wenn sich das Leben weitestgehend normalisiert haben wird, wird es dann mit den Konzerten, den Reisen, dem Unterrichten so sein wie vorher?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir zu dem zurückkehren, was war. Ich fürchte, dass viele kleine Veranstalter und kulturelle Einrichtungen die Krise nicht überstehen werden. Einige große Player wie die Deutsche Grammophon wird es auch danach noch geben. Aber bei kleinen Ensembles und Veranstaltern, Plattenfirmen und Agenturen geht es an die Existenz. Ob man das Musikleben nach der Krise so ohne weiteres wieder hochfahren kann, wage ich zu bezweifeln.
Für Musiker kommt noch ein anderes Element dazu: Das Selbstvertrauen, mit dem ich auf die Bühne gehen konnte, ist schon nach vier Wochen ordentlich angekratzt. Ich habe vor ein paar Tagen ein live gestreamtes Konzert gemeinsam mit dem Pianisten Francesco Piemontesi hier in Berlin im Schinkel Pavillon gespielt und festgestellt, dass es schon nach vier Wochen ein großer Angang ist, mich hinzustellen und zu spielen. Ähnlich wie Piloten mit den erforderlichen Flugstunden geht es bei Musikern auch darum, diese Fähigkeiten in der echten Situation zu erhalten. Ich kenne es von vielen Kollegen: Wir haben oft mit Selbstzweifeln zu tun und sorgen uns, ein Konzert in der gewünschten Perfektion abzuliefern. Übung und auch eine gewisse Routine sind eine Voraussetzung für eine Höchstleistung. Bei Zirkuskünstlern wird das nicht anders sein. Auch bei einem Chirurgen, der mehrere Wochen nicht operiert hat, möchte ich nicht die Erste sein, die unter seinem Messer liegt. Ein Musiker ist zwar kein Chirurg, und es geht beim Musizieren nicht ums Leben. Aber eine musikalische Aufführung kann sich manchmal existenziell anfühlen. Deshalb war ich über die Idee von Francesco Piemontesi glücklich, gemeinsam im Internet zu musizieren. Wunderbar! Diese Situation rund um die Welt live zu streamen hat mich allerdings ziemlich unter Stress gesetzt.