Ernst von Siemens Musikpreis 2024
Unsuk Chin
Essay
Down the Rabbit Hole¹
von Dirk Wieschollek
„Begin at the beginning,” the King said, very gravely,
„and go on till you come to the end: then stop.”
— Lewis Carroll, Alice in Wonderland, Chapter 12
Die Musik Unsuk Chins: Transkulturelles Klang-Kaleidoskop und orchestrale Illusionsmaschine
Kaum eine Besprechung der Musik Unsuk Chins, die nicht gleich in den ersten Zeilen eine ihrer eindrucksvollsten Qualitäten in den Vordergrund rückt: die unmittelbare Sinnlichkeit und Farbintensität der klanglichen Wirkung: Es glitzert und funkelt, leuchtet und irrlichtert in Transformationen und Metamorphosen vielstimmiger Instrumental-Gewebe, die immer wieder verblüffende Klang-Konstellationen hervorbringen. Das allein nötigt nach 300 Jahren Orchestergeschichte Bewunderung ab. Dasjenige aber, was Unsuk Chins Kompositionen so besonders macht, lässt sich nicht auf schillernde Oberflächen und Verführungen der Instrumentationskunst herunterbrechen. Es hat mit der Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität ihrer Mittel zu tun: ihren Doppelbödigkeiten und imaginären Potentialen im Wechselspiel von Konstruktion und expressiver Dynamik, von Objekthaftigkeit und Bewegung, von offensichtlicher Schönheit und verborgener Abgründigkeit. Erst recht, weil in Chins Klangdenken Farbe und Struktur zwei Seiten einer kompositorischen Medaille sind.
Es ist unüberhörbar, dass das Medium, in dem sich die Komponistin am liebsten und wirkungsvollsten bewegt, der große Orchesterapparat ist. Unbeeindruckt von der zwischenzeitlichen Neigung der Neuen Musik zum Fragment, entlockt Chin dem Orchester seit Jahrzehnten eine Energie und einen Klangreichtum, wie es momentan nur wenige Komponist*innen vermögen. Es ist eine große Qualität ihrer Musik, dass sie sich von ästhetischen Trends und kommerziellen Oberflächen gleichermaßen fernhalten konnte. In Unsuk Chins Rede zur Verleihung des Arnold-Schönberg-Preises 2005 in Wien finden wir eine ihrer wesentlichen künstlerischen Prämissen formuliert: dass „Komplexität und Kommunikation keine inkommensurablen Größen sein müssen.“
Seit über 30 Jahren wahrt Unsuk Chin eine merkliche Distanz zum Musikbetrieb und seinen Institutionen. Die Gründe dafür sind auch in ihrer Arbeitsweise zu suchen. Chin ist keine Vielschreiberin, sondern nimmt sich Zeit, arbeitet gewissenhaft am kleinsten Klangzusammenhang, um ihre Imaginationen möglichst genau auf eine sinnlich erfahrbare Ebene zu bringen. Das steht den Anforderungen zahlreicher Aufträge im alljährlichen Festivalkarussell spürbar entgegen. Chins internationalem Erfolg hat das keinen Abbruch getan, der nicht in Deutschland, sondern in England und Frankreich seinen Durchbruch erlebte und eng mit den Dirigenten George Benjamin und Kent Nagano verknüpft ist.